Thomas Birtel im großen Interview : Zwischen Börse und T-Shirt

Thomas Birtel
© WIM/Matthias Heschl

"Inflation hat die Zeit meines Studiums geprägt - wir haben das ja fast vergessen"

SOLID: Was geschieht nach dem 1. Jänner 2023? Werden Sie in Wien bleiben? Sie sind ja seit Mitte des Jahres Aufsichtsrat der Wienerberger, haben aber auch noch andere Aufsichtsratsposten in Deutschland.

Dr. Thomas Birtel:
Das stimmt. Ich bin außerdem Vizepräsident der Deutschen Handelskammer in Wien und werde das auch nach meinem Austritt bei der Strabag bleiben. Ich bin Kassier bei der Concordia Stiftung in Wien und ja, ich bleibe. Nach 17 Jahren Wien - ich war ja immerhin schon sieben Jahre vor meiner Berufung zum Vorstandsvorsitzenden im Vorstand der Strabag SE - gibt man das nicht mehr auf!

Wann haben Sie denn das erste Mal in Ihrem Leben mit der Bauwirtschaft Kontakt gehabt? War das schon in den 1970ern, als wir das letzte Mal so eine wirtschaftliche Phase mit Inflation und Energiepreiskrise hatten?


Birtel:
Da hatte ich noch keinen Kontakt mit der Bauwirtschaft, denn da war ich noch auf der Universität. Aber tatsächlich ist es das erste Mal schon gewesen, bevor ich Mitte der Neunzigerjahre zur Strabag gekommen bin. Ich war nämlich davor im Anlagenbau tätig, und eine meiner ersten ausländischen Großbaustellen war eine Papierfabrik auf Borneo. Das ausführende Bauunternehmen dort war übrigens durch Zufall die Firma Züblin (heute Teil des Strabag-Konzerns, Anm.).

Wie haben Sie damals diese Phase der Inflation und der hohen Zinsen wahrgenommen?


Birtel:
Das hat mein Studium schon geprägt, weil da die Bekämpfung der Inflation - ich bin ja Ökonom von Haus aus - im Mittelpunkt des Interesses stand. Und da merkt man dann den Unterschied zu einer Zeit, wo es keine Inflation gibt und wo man vergisst, dass zwischen nominal und real ein Unterschied bestehen kann, der beispielsweise bei der Unternehmensplanung schlagend wird. Da ist das ein Thema, das uns ja jetzt über ein Jahrzehnt nicht beschäftigt hat und das wir jetzt wieder in den Fokus nehmen müssen.

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AKTUELLE AUSGABE

SOLID Bau - Fachmagazin

"Die Wirtschaftstheorien müssen sich weiterentwickeln, weil die Situation in manchen Bereichen doch ganz anders ist als in der Vergangenheit."

Wie konnte das überhaupt so kommen? 2014, als ich bei Solid begonnen habe, haben schon alle gesagt: Wenn die Zinswende jetzt kommt, werden wir auch eine Marktbereinigung erleben. Dann werden die zusätzlichen Kapazitäten - die damals noch ein bisschen Überkapazitäten waren - die durch den Crash der Alpine in den Markt gekommen sind, bereinigt werden. Aber die Zinswende ist einfach nicht gekommen. Und jetzt kommt sie auf einmal und mit Vehemenz. In der Öffentlichkeit wird sie oft mit dem Krieg in der Ukraine verbunden und begründet. Aber das kann ja nicht der einzige Grund sein, außerdem hat die Inflation ja schon früher begonnen.

Birtel
: Es hat etwas früher begonnen. Warum es so lange keine Zinsen gab, obwohl ja beispielsweise die EZB alles nur Erdenkliche unternommen hat, um eine gewisse Inflation zu erzeugen, erklären Nationalökonomen, die viel klüger sind als ich, schlicht mit dem Horten. Das heißt, das Geld war da, aber es ist nicht verwendet worden, und wenn es nicht verwendet wird, dann wird es gehortet. Und das ist ein Phänomen, das lange angehalten hat und nun ein jähes Ende gefunden hat, tatsächlich auch schon vor dem Ausbruch des Ukraine Krieges. Da gab es schon Preissignale im Energiesektor, die durch Knappheitssituationen entstanden sind, aber auch im Baustoffsektor beispielsweise, wo auf einmal Mengen nicht mehr verfügbar waren, weil sie in andere Regionen der Welt abgeflossen sind, prototypisch nach Nordamerika oder nach China. Und wenn Mengen nicht da sind, hat das natürlich sofort Preisauswirkungen. Und das haben wir in der Tat schon ab 2020/21 gemerkt.

Es war immer genug da von allem?


Birtel
: Es war immer genug da und es hat immer eine verlässliche Basis gegeben. Diese Situation hat sich sehr drastisch und sehr stark geändert.

Glauben Sie, dass die Theoriebildung in der Wirtschaft - also alles, was mit Keynes und Hayek, den Kondratjew-Zyklen und was wir alles in der Schule gelernt haben - eigentlich unserer Zeit noch angepasst ist? Oder gibt es für jetzt einfach kein passendes Modell? Muss ein neues kommen? Man hat so ein bisschen den Eindruck, wir fahren auf Sicht.


Birtel
: Wir fahren schon auf Sicht - es werden aber auch manche Erkenntnisse der Vergangenheit wieder aktiviert, weil man den Eindruck hat, es ist doch so, wie wir das ursprünglich mal gelernt haben! Dass beispielsweise der Euro Probleme bekommen hat in den letzten Jahren, bestätigt eigentlich das, was ich in meiner Nationalökonomie-Vorlesung gelernt habe: dass, wenn man eine Gemeinschaftswährung hat und keine konsistente, gemeinsam abgestimmte Wirtschaftspolitik betreibt, das zu Problemen führen muss. Insofern fühlt man sich da nur bestätigt.

Aber es stimmt: Die Theorien müssen sich weiterentwickeln, weil die Situation in manchen Bereichen doch ganz anders ist als in der Vergangenheit. Ich möchte da etwa an die demografische Entwicklung erinnern: Wir sind in praktisch allen europäischen Ländern, in denen wir aktiv sind, eine alternde und schrumpfende Gesellschaft. Und das wird dazu führen, da wir ja gegenwärtig schon niedrige Arbeitslosenquoten haben, dass wir diesen Arbeitskräftemangel überall verspüren – nicht nur als Fachkräftemangel. Deswegen muss man sich, glaube ich, von einem Paradigma trennen, das wir in der Vergangenheit immer gelebt haben und das besagt hat: Wenn es niedrige Arbeitslosenraten gibt, dann ist die Wirtschaftslage gut. Das wird künftig nicht mehr so sein. Es kann durchaus beides zusammentreffen: niedrige Arbeitslosigkeit und schlechte Wirtschaftslage.

„In Europa ist mir für die generelle Baukonjunktur nicht bang“ - das Video zum Interview

"Ich würde auch für Deutschland und für unsere europäischen Märkte jetzt kein allgemeines Baurezessionsszenario an die Wand malen. Das muss man sehr viel differenzierter betrachten."

Ist das etwas, das aus Ihrer Sicht auf Europa beschränkt ist? Vor kurzem hieß es in einer Diskussion zur Zukunft der Bauwirtschaft etwas zugespitzt: In Deutschland wird das vielleicht ein Problem, aber weltweit wird die Bauwirtschaft weiterhin florieren oder es geht sogar erst richtig los.

Birtel
: Ich würde auch für Deutschland und für unsere europäischen Märkte jetzt kein allgemeines Baurezessionsszenario an die Wand malen. Das muss man sehr viel differenzierter betrachten. Beim Häuslbau wahrscheinlich schon, aber im großen Infrastrukturbau sehe ich das in unseren europäischen Märkten noch nicht. Aber natürlich ist beispielsweise die Energiesituation in einem Land wie Chile, wo wir als Strabag auch sehr namhaft unterwegs sind, überhaupt nicht zu vergleichen mit der in Europa. Da ist business as usual, da ist nichts passiert. Und von daher sind die Rahmenbedingungen in diesen Ländern, die weit weg von Europa sind, natürlich ganz andere als in Europa. Aber wie ich schon sagte, auch in Europa ist mir generell für die Baukonjunktur bisher noch nicht bange. Man muss einzelne Bereiche differenzieren. Die sind sicherlich betroffen, gegenwärtig schon und werden es auch künftig sein. Aber andere werden sich da stabilisieren.

In Deutschland wird aber schon ein bisschen Katastrophenstimmung verbreitet, zumindest wenn man den Meldungen der diversen Verbandschef zuhört. Ich denke mir dann immer: Entweder leben wir hier in einem vollkommen anderen Land oder es wird einfach überzeichnet. Wie würden Sie das einschätzen?


Birtel
: Es wird sicher teilweise etwas überzeichnet, teilweise ist aber auch die Betroffenheit eine spezifische, bei der das dann berechtigt ist. Wir haben in Deutschland ja viel stärker als in Österreich und vor allen Dingen in Wien ein wirklich gravierendes Wohnungsproblem. Und das ist natürlich ein Sektor, der jetzt massiv betroffen ist durch die Zinserhöhungen. Die großen Wohnungsbaugesellschaften erklären für mich sehr verständlich: Wir können im Moment unser Bauprogramm nicht aufrechterhalten, weil zu den Preisen, zu denen wir jetzt bauen müssten, könnten und dürften wir aus sozialer Verantwortung nicht vermieten. Das muss man verstehen. Und das ist für dieses Land ein Riesenproblem, das wir in Österreich und vor allen Dingen in Wien ja dank einer sehr kontinuierlichen und konsequenten Wohnungsbaupolitik so nicht haben.

Für den bauausführenden Bereich könnte man ja sagen: Eigentlich gar nicht so schlecht, wenn es mal ein bisschen weniger ist, dann können wir unsere Arbeit vernünftig bewältigen - oder?


Birtel
: Da ist was dran. Wir haben natürlich jetzt Jahre einer sehr starken Nachfrage hinter uns. Das zeigt sich ja auch auf bei den Auftragsbestandentwicklungen, die stetig zugenommen haben. Das zeigt sich auch bei den vielen offenen Stellen, die wir am Bau haben und nicht nur als Strabag-Konzern, sondern insgesamt nicht besetzen können. Insofern ist das eine gewisse Atempause. Aber trotzdem trifft es manche Marktteilnehmer dann doch recht negativ, wenn sie eine Fokussierung auf ein problematisches Baufeld haben. Wenn also jemand sich spezialisiert hat auf das Eigenheim, auf den eigenen Einfamilienhausbau, dann hat er im Moment wahrscheinlich ein Problem. Die Unternehmen, die wie wir breit aufgestellt sind und immer auf eine Diversifikation geachtet haben, geografisch und sachlich, bei denen trifft das zu, was sie sagen. Ja.

© WIM/M. Heschl

"Wir sind in unseren Kernländern in Europa, vor allen Dingen in Polen, aufgrund unseres Aktionärs mit Russland gleichgesetzt worden."

Diversifizieren ist das Gebot der Stunde, sagt ja auch der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck immer wieder. Er meint damit zwar im Speziellen die Energieliefersituation, aber ich muss da immer an die Strategie der Strabag denken, die mit Ihnen verbunden wird, die aber, glaube ich, schon Hans Peter Haselsteiner eingeleitet hat?

Birtel
: Das trifft absolut zu. Hans Peter Haselsteiner hat in dem Zusammenhang immer vom Tausendfüßler gesprochen. Ich habe das dann mehr nüchtern als Strategie der doppelten Diversifikation bezeichnet. Aber der Kerngedanke ist natürlich konsistent immer fortgeführt und auch immer weiter durchgesetzt worden.

Der selbe Hans Peter Haselsteiner hat in einem Interview im Jahr 2016 gesagt: Ich glaube, dass wir auf einem Vulkan sitzen, und ich hoffe, dass er nicht in einer riesigen Eruption hochgeht, sondern in kleinen Rinnsalen den Überdruck abbaut. Man könnte meinen, das wäre von jetzt.


Birtel
: Ja, das passt natürlich ganz gut zur Zeit. Wobei er sicherlich nicht abgesehen hat, was sich heute im Osten unseres Kontinents abspielt.

Der Osten des Kontinents war allerdings auch damals ein bisschen der Anlass, namentlich die Annexion der Krim durch Russland und die Folgen. Haselsteiner hat damals auch gesagt, aus seiner Kenntnis von Russland, dass Sanktionen nur dann Sinn haben, wenn sie gegen einen demokratischen Staat gehen, weil die dann die Regierung rausschmeißen. Wie sehen Sie das jetzt? Sind Sie froh, dass dieses Russland-Engagement, das eine Zeit lang sehr vorangetrieben wurde, nicht nur durch die Beteiligung von Oleg Deripaska, aber auch mit ihm, zu Ende gegangen ist?


Birtel
: Es ist richtig, dass wir spätestens seit der Krim-Annexion laufend rückläufige Geschäfte in Russland zu verzeichnen hatten und auch der wirtschaftliche Erfolg nicht mehr so war, wie er insbesondere seit dem Börsengang 2007 gewesen ist. Deswegen ist das für uns kein materielles Problem, dass wir im Frühjahr 2022 verkünden mussten: Wir wickeln unser Russland Geschäft ab, weil das nur mehr unter 0,3 % unserer Auslastung ausmacht. Trotzdem beinhaltet das Hunderte von menschlichen Schicksalen, denn wir haben zum Zeitpunkt dieser Entscheidung noch über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Russland gehabt. Die Entscheidung trifft den Konzern materiell nicht ins Mark, das ist eine Tatsache, aber froh bin ich trotzdem darüber nicht.

Hatte man nicht eher das Problem, dass man aufgrund der Deripaska-Beteiligung speziell im wichtigen Markt Polen ein bisschen auch als russische Firma gesehen wurde?


Birtel
: Diese ganzen Schritte, die wir damals verkündet haben - die Aufgabe des Russland-Geschäfts, der Umstand, dass wir unserem russischen Aktionär keine Dividende mehr zahlen, solange er sanktioniert ist, und die Entscheidung der Haselsteiner-Familien-Privatstiftung, das Syndikat zu kündigen - sind dadurch erforderlich geworden, dass wir zum einen schon vor den EU-Sanktionen solche im Vereinigten Königreich und in Kanada hatten. Dort haben wir große öffentliche Aufträge und die sind kritisch hinterfragt worden. Und wir sind in unseren Kernländern in Europa, vor allen Dingen in Polen, aber auch beispielsweise in Rumänien, also in den jetzigen - wenn man so will - Frontstaaten doch leider in vielen Fällen gleichgesetzt worden sind mit Russland. Wir haben uns zu solchen Schritten gezwungen gesehen und sie haben auch erfreulicherweise Wirkung gezeigt. Heute haben wir wieder eine normale Situation: Man sieht, dass die Strabag keine russische Firma ist, dass die Strabag in keiner Weise von ihrem russischen Aktionär beeinflusst wird und honoriert das auch.

Ich glaube, man könnte Deripaska jetzt gar nicht herauskaufen in der Sanktionssituation, stimmt das?


Birtel
: Davon gehe ich aus, denn sanktioniert heißt eingefroren und eingefroren heißt in jeder Richtung, es sei denn, man würde Ausnahmegenehmigungen erteilt bekommen. Und das sehe ich zurzeit nicht ab.

Die Strabag in Zahlen

- © WIM

"Der Aktienkurs ist operativ nicht wichtig. Aber er ist ein Reputationsfaktor."

Lassen Sie uns ein bisschen über die Börse sprechen und über die Entwicklung der Strabag-Aktie. Als sie vor ziemlich genau 15 Jahren ausgegeben wurde, war der Kurs bei 47 EUR, heute schwankt er um die 38 bis 40, das ist doch deutlich weniger. Jetzt kann man natürlich sagen: Als Sie den Vorstandsvorsitz übernommen haben, war der Kurs bei 20 EUR und da ist es jetzt ohnedies besser. Aber wie sehen Sie das und wie sehen Sie diese Schwankungen?

Finden Sie HIER die gesamte Entwicklung des Aktienkurses der Strabag SE

Birtel
: Der Umstand, warum die Preise so stark schwanken, ist bei einer Aktie, die so eine geringe Liquidität hat - wir haben ja unter 15 % Streubesitz - nur mit geringen Bewegungen zu erklären und nicht unbedingt immer rational - für mich sicherlich nicht. Solange sie unter dem Buchwert notierte, war das völlig irrational. Da sind wir jetzt ein bisschen drüber hinaus. Aber generell ist das der Grund, warum ich diesen geringen Streubesitz nicht für gut halte und mich sehr darüber freue, dass Hans Peter Haselsteiner als Aktionärsvertreter seinen schon 2017 geäußerten Gedanken wieder aufgegriffen hat, in Aussicht zu nehmen, den Streubesitz doch deutlich zu vergrößern.

2017 bei der letzten Syndikatsverlängerung war ja angeblich die Uniqa Raiffeisen Gruppe nicht ganz sicher, ob sie im Syndikat bleibt. Genau deshalb?


Birtel
: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass es schon damals in erster Linie am dritten Syndikatspartner (Oleg Deripaska, Anm.) gelegen hat, dass es nicht zu der von Hans Peter Haselsteiner angestrebten Erhöhung des Streubesitzes gekommen ist.

Wie wichtig ist denn eigentlich dieser Aktienkurs tatsächlich für die Strabag?


Birtel
: Er ist operativ nicht wichtig. Trotzdem ist er natürlich ein Reputationsfaktor und deswegen glaube ich, dass es richtig wäre, mit einem höheren Streubesitz einen Aktienkurs zu haben, der den inneren Wert des Unternehmens viel besser reflektiert als das heute der Fall ist.

Ich glaube, es war Wienerberger-CEO Heimo Scheuch, der einmal gesagt, dass sich bei starken Kernaktionären die Frage stellt, ob man tatsächlich eine börsennotierte Aktiengesellschaft ist. Das gilt ja für die Porr ähnlich - dort haben wir auch wie vor und nach Ihnen bei der Strabag einen starken Eigentümervertreter als Vorstandsvorsitzenden. Da kann man sich tatsächlich auch die Frage stellen: Was macht diese Firma an der Börse, außer sich Geld zu holen?


Birtel
: Wenn man einen Free Float hat von etwa 40 %, dann ist meiner Meinung nach die Berechtigung schon besser verständlich, als wenn es nur 15 % sind. Deswegen bin ich ja auch dafür zu versuchen, ihn entsprechend aufzustocken. Und dann ist das Interesse von Groß- und Streubesitz, glaube ich, doch recht harmonisch, nämlich eine möglichst gute Ergebnislage der Beteiligung zu sehen und eine entsprechend stabile und positive Dividendenpolitik. Das ist ja das Kerninteresse, das die Aktionäre dann in allen Größenordnungen vereinen sollte.

Wenn man ein bisschen rechnet, sieht man, dass die Summe, die Herrn Deripaska da jetzt eingefrorenerweise derzeit pro Jahr vorenthalten bleibt, jedem von uns ein mehr als sorgenfreies Leben sichern würde. Also da geht es schon um riesige Summen.


Birtel
: Das stimmt, weil unsere Dividende eben aufgrund der guten Ergebnisse nicht klein ist. Ihm stehen davon 27,78 % zu und er wird sie so lange nicht bekommen, wie er sanktioniert ist. Das ist natürlich ein Zeitrahmen, der heute überhaupt nicht abgeschätzt werden kann und solange der läuft, wird sich das immer weiter aufsummieren und derweil die Finanzierung des Konzerns stärken.

"3D-Druck am Bau ist noch Grundlagenforschung"

Spielen Sie eigentlich Schach?

Birtel
: Nein.

Ich habe mich in letzter Zeit relativ viel mit künstlicher Intelligenz beschäftigt und jetzt kürzlich im Zuge der Geschichte mit dem Weltmeister Magnus Carlsen und dem Amerikaner Hans Niemann, der bei Turnieren betrogen haben soll, voller Verwunderung gelesen, dass es tatsächlich mittlerweile so weit ist, dass die Maschine den Menschen einfach schlägt - also jedes gute Handy-Schachprogramm schlägt jeden Großmeister. Und es geht jetzt darum im Gegensatz zu früher: Finden wir Menschen überhaupt die Züge, die die Computer finden? Könnte das in der in der Bauwirtschaft auch irgendwann einmal so sein, dass wir die Computer nachahmen?


Birtel
: Ich kenne ja die Schachregeln schon - und das Faszinierende an diesem Spiel ist, dass es so herausfordernd ist, obwohl die Regeln eigentlich ganz einfach sind. Aber diese Gesetzmäßigkeiten folgen anderen Grundsätzen als beim Bauen. Beim Bauen sind die Regeln eben nicht so klar definiert. Ein klares Regelwerk erleichtert künstlicher Intelligenz nach meinem Verständnis sehr, Mehrwert zu schaffen. Und das ist beim Bau, glaube ich, viel herausfordernder als im Schach.

Das heißt, wir brauchen für die Digitalisierung auch ein klareres Regelwerk?


Birtel
: Das wäre sicherlich hilfreich. Das Zauberwort, das dort zu nennen wäre, ist Standardisierung. Denn darüber reden wir ja. Digitalisierung braucht Standardisierung und die Standardisierung ist nichts weiter als das Regelwerk im Schach.

Brauchen wir sie auch, um das Arbeitskräfteproblem erfolgreich zu adressieren?


Birtel
: Digitalisierung und damit Standardisierung sind die Voraussetzungen für Roboterisierung, Automatisierung und Industrialisierung des Prozesses. Man kann leistungsfähige Maschinen nur dann sinnvoll steuern, wenn sie auf der Basis eines digitalen Modells dessen gesteuert werden können, was gebaut werden soll. Nur mit einer Industrialisierung des Bauens wird man die fehlenden Human Resources ausgleichen können. Insofern hängt Digitalisierung mit Effizienzsteigerung am Bau ganz eng zusammen.

Wie kann man Industrialisierung und trotzdem ein bisschen Individualisierung halbwegs unter einen Hut bringen? Beim Wohnen oder auch bei Firmen? Nicht jede Firma will das gleiche Gebäude wie die Firma daneben haben.


Birtel
: Auch da ist, glaube ich, das digitale Gebäude-Modell sehr hilfreich. Man hat in der Tat in der Vergangenheit modulares oder serielles Bauen mit Kisten gleichgesetzt. Schauen wir in den früheren Ostblock - da gab es diese berühmten Plattenbauten, die natürlich alles andere als architektonisch ansprechend gestaltet worden sind. Aber Digitalisierung erlaubt eben durchaus individuelle Formen. Ich darf an unser erstes 3D-gedrucktes Haus in Österreich in Hausleiten in Niederösterreich erinnern. Das hat nicht ohne Grund die Form eines Kleeblatts. Von der Funktion her hätte es das nicht gebraucht, denn es ist ja nur ein Bürozubau, den wir da realisiert haben. Aber wir wollten eben zeigen, welche Formen mit dieser Form der Automatisierung und Industrialisierung ohne Probleme möglich sind. Es wäre konventionell sehr aufwändig gewesen, eine solche Form zu erzeugen - wenn man das auf der Basis eines digitalen Gebäudemodells macht, ist das überhaupt kein Problem.

Wobei der 3D Druck da meines Wissens wirtschaftlich noch nicht wirklich darstellbar ist. Geht es nicht eher um Vorfertigung und da vielleicht eine größere Varietät hineinzubringen?


Birtel
: Ja - 3D Druck am Bau ist noch Grundlagenforschung.

"Ich bin eben doch noch ein Angehöriger der Babyboomer Jahre."

Noch einmal zurück zum Arbeitskräftethema: Wir sehen ja jetzt ein munteres Hin und Her und Werben um Arbeitskräfte nicht nur innerhalb der Baubranche. Die Kirschen in Nachbars Garten werden einem auch oft als sehr schön angepriesen. Dann bekommt man in der Regel auch noch gleich ein bisschen mehr Geld - in der Regel das größte Argument, um jemanden von wo loszueisen, wo er nicht prinzipiell unglücklich ist. Wo kann das ein Ende haben?

Birtel
: Ich glaube, man darf das nicht übertreiben. Natürlich gibt es Abwerbungen und natürlich ist gerade vielleicht ein Unternehmen, das nicht so viel Geld in die Ausbildung investieren kann, geneigt, sich dann gute Leute von jemandem zu holen, der das tut. Und das gleicht man aus durch höhere Bezüge. Das heißt, man kann das eine durch das andere ja substituieren. Aber wenn ich mir unsere Fluktuation anschaue, bin ich da nicht beunruhigt. Es gelingt uns eigentlich, Jahr für Jahr in unseren Märkten etwas mehr Personal per Saldo zu haben als im Jahr davor. Es ist noch nicht genug, aber es ist nicht so, dass wir mit einer Fluktuation und mit sinkenden Arbeitnehmerzahlen kämpfen. Das ist bis heute noch nicht so, wir können also in unseren Kernländern jedes Jahr ein paar mehr Menschen dafür begeistern, für die Strabag zu arbeiten. Und solange das so ist, bin ich in der Hinsicht nicht so beunruhigt.

HIER zu "Wie Sie Baufacharbeiter finden und an sich binden"

Ich war ein bisschen schockiert, als ich mit Klemens Haselsteiner über New Work und die damit verbundenen Büroum- und -neubauten geredet habe und er so in einem Nebensatz gesagt hat: Na ja, man muss den Leuten eh zahlen, was man ihnen zahlen muss.

Birtel
: Ich verstehe das so, dass man natürlich marktgerecht vergüten muss, nicht nur tarifgerecht. Und wenn man das so versteht, dann hat er völlig recht.

Lesen Sie HIER den großen Report über New Work in der Baubranche

Was wollten Sie denn als Kind werden?

Birtel
: Das erste, an das ich mich erinnern kann, weil in der Volksschule ein entsprechender Aufsatz angefordert wurde, war Tankstellenbesitzer.

Warum?


Birtel
: Das kann ich mir heute nicht mehr erklären.

Haben Sie Zeit für Hobbys und gibt es welche - außer nicht Schach zu spielen?


Birtel
: So richtig zeitraubende Hobbys kann ich derzeit noch nicht pflegen. Aber ich gehe gerne mit meiner Frau in die Oper. Meine Frau geht sehr gerne ins Ballett und dann gehe ich auch hin und wieder einmal mit. Ich fotografiere gern, ich reise gerne und ich habe gerne Enkel.

Gibt es ein Lieblingsland, wenn Sie reisen?


Birtel
: Da würde ich mich jetzt nicht festlegen. Es gibt auch nicht ein Land, wo ich immer wieder hinfahre, sondern da interessiert mich viel mehr das, was ich noch nicht gesehen habe.

Wenn Sie dorthin fahren, tragen Sie da auch T-Shirt? Man sieht Sie immer nur mit Hemden, mit Manschettenknöpfen. Also man erschrickt schon fast, wenn es ein Foto ohne Krawatte gibt.


Birtel
: Das ist vielleicht die Sozialisierung im Büro. Da bin ich dann eben doch noch ein Angehöriger der Babyboomer Jahre, wo man das getan hat. Zu meiner Zeit haben auch die Lehrer noch Krawatte getragen. Erstens waren sie auf dem Gymnasium meistens männlich und zweitens haben sie dann Anzug und Krawatte getragen - heute auch unvorstellbar. Aber in der Freizeit, da kann ich Sie beruhigen, bin ich durchaus mal im Polo oder T-Shirt unterwegs und trage nie Krawatte.

Wissen & Service

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"Ich glaube, dass Klemens Haselsteiner sehr gute Voraussetzungen hat, diese Herausforderung jetzt anzunehmen."

Was macht Sie denn stolz?

Birtel
: Wenn ich auf meine Strabag-Zeit zurückblicke, dann ist das einmal dieser wirklich große Erfolg des Slogans „Teams Work“, den wir 2013 eingeführt haben. Etwas paradox, weil er gerade abgelöst wird durch die Weiterentwicklung „Work on Progress“. Aber für mich hat „Teams Work“ „Work on Progress“ erst möglich gemacht. Und deswegen, glaube ich, gibt es guten Anlass, nicht nur für mich allein, sondern für uns alle im Konzern, darauf stolz zu sein. Das Zweite ist, dass es uns 2016 und 17 gelungen ist, die beiden großen deutschen Konzerntöchter zu 100 % in den Konzern zu bekommen. Das war die damals noch börsennotierte Strabag AG in Köln und die Züblin AG in Stuttgart. Das dritte ist der Track Record bei der Ergebnisentwicklung. Dass wir allen Widrigkeiten in den Märkten und in der Politik zum Trotz über einen sehr langen Zeitraum ein stetiges positives Ergebniswachstum erreicht haben. Dass das gelungen ist, obwohl sich die Märkte so unterschiedlich entwickelt haben, ist für mich einmal eine Bestätigung der Robustheit des Geschäftsmodells und zum Zweiten der Erfolge, die wir - und das ist mein Credo - beim projektbezogenen Risikomanagement erreicht haben. Wir sind eine projektgetriebene Industrie und die Steuerung und Bewältigung projektbezogener Risiken ist das A und O bei den Ergebnissen, und da sind wir beileibe noch nicht am Ende und wir werden wahrscheinlich nie an einen Endpunkt kommen. Da gibt es weiten Raum zur Verbesserung, auch wieder mithilfe weiterer Digitalisierungsanstrengungen. Aber dass es sich lohnt, können wir jetzt inzwischen nach über zehn Jahren in einer kontinuierlichen Aufwärtskurve Gott sei Dank sagen.

Das Risikomanagement hat sich ja, glaube ich, generell in der Bauwirtschaft extrem entwickelt nach 2008. Stimmt der Eindruck, dass es davor ein bisschen Flucht nach vorne war?


Birtel
: Ja, das stimmt.

Wer entwickelt diese Slogans wie „Teams Work“ eigentlich?


Birtel
: Das macht schon der Vorstand selber, aber mit professioneller Unterstützung.

Wie lang dauert es, bis man einen neuen Slogan hat?


Birtel
: Das ist schon ein Vorhaben, das viele Monate in Anspruch nimmt.

Aber es Ist nicht so, dass jeder Vorstandsvorsitzende einen Slogan zum Amtsantritt bekommt?


Birtel
: Vielleicht entdecken wir gerade eine Tradition. Das wird man dann sehen, wenn der nächste Vorstandsvorsitzende ans Ruder kommt. Aber ich vermute, das wird eine Weile dauern.

Wie sehen Sie denn diesen - man würde in unserer schnelllebigen Zeit fast sagen: Zwei-Generationen-Sprung? Eigentlich ist es ja ein einfacher Generationensprung vom Vater Haselsteiner zum Sohn Klemens mit Ihnen dazwischen. Aber normalerweise sagt man ja immer schon Generationswechsel, wenn einmal ein zehn Jahre Jüngerer kommt. Klemens Haselsteiner ist Jahrgang 1980, also gut 25 Jahre jünger als Sie. Was erwarten Sie sich davon für die Firma? Sie kennen ihn wahrscheinlich schon als Kind?


Birtel
: Ja, als jungen Mann. Ich glaube schon, dass er sehr gute Voraussetzungen hat, diese Herausforderung jetzt anzunehmen. Dafür muss man beweglich sein, neue Ideen bringen. Und das ist natürlich leichter, wenn man jung ist und in diesen Herausforderungen auch aufgewachsen ist. Insofern ist das essenziell für eine Firma, dass sie sich auch personell ständig erneuert. Und das ist ja nur ein Teil der menschlichen Natur.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang den Weggang von Peter Krammer, der am selben Tag verlautbart worden ist wie die Designierung von Klemens Haselsteiner und offenbar dann fast notwendig war?


Birtel
: Ich bedaure das persönlich sehr, aber es hat noch nie geschadet, wenn es auch im Wettbewerb vernünftiges Management gibt.

Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Frage mit dem Stolz. Sie haben erzählt, was Sie beruflich stolz macht. Gibt es auch etwas, das Sie in der Strabag menschlich stolz gemacht hat? Wo man sich denkt: Ah, genauso wünsche ich mir das!


Birtel
: Das hängt in diesem „Teams Work“ mit drin, denn der Kern dieses Slogans ist ja das Überwinden von Egoismen. Diese liegen in einem straff geführten Wirtschaftsunternehmen ja ein bisschen im Modell drin, weil wir unsere Entscheidungsträger natürlich auch am Ergebnis beteiligen und dadurch eine starke Motivation erzeugen. Das Ergebnis bezieht sich aber zwangsläufig auf eine bestimmte Unternehmenseinheit, in der Regel den Verantwortungsbereich dessen, der davon auch profitieren soll. Das kann dazu führen, dass man da ein bisschen in, wir nennen das: Kostenstellenegoismus, verfällt. Da einen Kontrapunkt gesetzt zu haben und den Teams-Gedanken stärker zu verankern, ist das, was mich wirklich froh und auch glücklich macht. Wir haben natürlich auch versucht, das zu flankieren. Es gibt zum Beispiel alle zwei Jahre einen Teams-Award, bei dem wir herausragende Teamleistung im Konzern sichtbar machen und belohnen. Da ist uns jetzt über die Jahre immer wieder noch etwas Neues auf den Tisch gekommen, bei dem man wirklich sagen kann: das haben die toll gemacht!

Ihr Österreich-Unternehmensbereichsleiter Reinhard Kerschner hat mir berichtet von einer Episode, zu der er gesagt hat: So glücklich habe ich den Chef überhaupt noch nie gesehen. Haben Sie eine Idee, wann das gewesen sein könnte?


Birtel
: Nein?

Er hat gesagt, es war bei der Eröffnung des Campus in Ybbs. Das ist natürlich wahrscheinlich auch ein bisschen durch seine Brille gesehen, weil das für ihn selber ein riesengroßes Projekt ist. Aber er hat gesagt, da gab es einen Lehrling und der hat Ihnen vorweg ein bisschen die Anlage gezeigt und hat sich dann nachher noch öffentlich bedankt bei Ihnen. Da hätte er Sie sehr glücklich und stolz erlebt.


Birtel
: Ja, das muss man einräumen. Bei einem Unternehmen unserer Größe gibt es nicht so viele Gelegenheiten, dass man wirklich mit so jungen Leuten dann selber enger im Kontakt ist. Wir hatten da die Gelegenheit, ein bisschen zusammen das Projekt anzuschauen und dann auch zu merken, wie sehr sich das gelohnt hat, dass wir trotz der gerade ausgebrochenen Krise der Pandemie bei dieser Entscheidung geblieben sind, einen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag zu investieren für junge Menschen. Insofern freue ich mich, wenn der Eindruck richtigerweise entstanden ist!

Wie sehen Sie denn generell diese junge Generation?


Birtel
: Die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit junger Menschen werden für mich oft unterschätzt. Ich glaube, wenn man ihnen die richtigen Möglichkeiten bietet, wenn man sie richtig motiviert, dann brauchen wir da auch für die Zukunft keine Angst zu haben.

Was haben diese fast neun Jahre als Vorstandsvorsitzender mit Ihnen als Mensch gemacht? Wie entwickelt man sich da? Wie geht es dem inneren Thomas Birtel?


Birtel
: Man sieht schon den Unterschied zum normalen Vorstandsdasein, weil natürlich auf dem Tisch des Vorsitzenden nur noch landet, was in anderen Rahmenbedingungen nicht so entschieden werden konnte, dass alle damit einverstanden sind, die es sein sollten. Insofern sind das also besondere Fähigkeiten, die man braucht oder auch Entscheidungskraft. Aber wie ich vorhin schon sagte, er hat mich nicht völlig unvorbereitet getroffen, weil ich ja lange Zeit wirklich Tür an Tür mit Hans Peter Haselsteiner arbeiten durfte. Genauso wie Klemens Haselsteiner und ich das jetzt halten.

Wird es Ihnen abgehen, diese Entscheidungen treffen zu müssen - oder nicht so?


Birtel
: Das kann ich heute noch nicht sagen. Ich hoffe nicht.