Digitalisierung I Analyse I Green Deal : Bauproduktenverordnung auf der Zielgeraden
Die Geschichte ist komplex. Die Entstehung des Entwurfes 2022/0094 der Kommission vom 30. März 2022 für eine Neufassung der Bauproduktenverordnung 305/2011 war nur bedingt konsensual. Die vorgeschriebenen Stakeholder-Befragungen im Vorfeld des Entwurfes hatten den überwiegenden Wunsch nach Beibehaltung der früheren Regelung ergeben.
Der Entwurf selbst wurde mit rekordverdächtigen 280 Kommentaren aus ganz Europa bedacht, welche sich vor allem auf die umfangreichen Mehrbelastungen für Unternehmen bezogen und die sich daraus ergebenden negativen Folgen thematisierten, unter anderem die Leistbarkeit des Wohnens betreffend.
Der schon rein personell kaum bewältigbare Prüfaufwand durch sogenannte „notifizierte Stellen“, die kaum beschränkte Vielfalt betroffener Produkte bis hin zu Gebrauchtteilen und 3D-Druckvorlagen und die als zu wenig demokratisch legitimiert erscheinende Rechtssetzungsermächtigung für die EU Kommission durch delegierte Rechtsakte als Ersatz für die stockende Harmonisierung der europäischen Normen ging vielen deutlich zu weit.
Unstrittige Nachhaltigkeitsziele
Von Beginn außer Streit stand jedoch die grundsätzliche Richtigkeit der verfolgten Ziele insbesondere auch im Zusammenhang mit dem 2019 von der europäischen Union verkündeten „green deal“ zur Errichtung eines nachhaltigen, umwelt- und ressourcenschonenden Wirtschaftssystems für Europa, welches auch Abhängigkeiten von Rohstofflieferländern reduzieren soll.
Haben schon die letzten Überarbeitungen (z.b. Anfang Februar 2024) erhebliche Änderungen des ursprünglichen Entwurfes mit sich gebracht, ist mit der Entschließung des Europäischen Parlaments nun ein Stand erreicht, der wahrscheinlich schon relativ nahe dem endgültigen Gesetzestext ist.
Zeitnahe Umsetzung zu erwarten
Aus dem üblichen legislativen Prozess der europäischen Union ist anzunehmen, dass die Verabschiedung der endgültigen europäischen Bauproduktenverordnung noch 2024, vermutlich im Herbst, erfolgen wird.
Nachdem Verordnungen in den Mitgliedsstaaten der europäischen Union ohne weitere Rechtssetzungsverfahren innerhalb einer bestimmten Frist (im Fall der Bauproduktenverordnung 12 Monate) automatisch Gültigkeit erlangen, wird der Baustoffsektor gegen Ende 2025 die Anforderungen der neuen Verordnung zu erfüllen haben.
Die Umsetzung erfolgt jedoch stufenweise. Einerseits sind produktgruppenspezifisch zum Teil durchaus ausgiebige Übergangszeiträume zu erwarten (Erwägungsgrund 109), andererseits erfolgt die Definition der betroffenen Produktfamilien nicht vollständig bereits mit der Verordnung, sondern in weiterer Folge durch harmonisierte Normen und/oder delegierte Rechtsakte.
Auch die Einführung des digitalen Produktpasses als zentrales digitales Instrument zum Nachweis der Erfüllung von Nachhaltigkeitskriterien und Produktsicherheit ist – auch aufgrund der Abhängigkeit von der am 27.5.2024 verabschiedeten neuen Ökodesign-Verordnung und der hier noch offenen Standardisierungstätigkeit der CEN/CENELEC JTC 24 nicht unmittelbar, sondern erst mit 2028 vorgesehen.
In Anbetracht der erforderlichen, umfangreichen Vorbereitungsarbeiten ist der verbleibende Zeitraum für Marktteilnehmer dennoch sehr knapp bemessen.
Kohärenz im ersten Legislativpaket
Bei näherer Auseinandersetzung mit den aktuell im Rahmen des ersten Legislativpaketes zum „green deal“ entstehenden verschiedenen Verordnungen wie
* Ökodesignverordnung
* Bauproduktenverordnung
* Batterieverordnung
und diversen anderen Verordnungen für andere Produktsektoren
sowie begleitenden EU Rechtssetzungsprojekten wie der neuen europäischen Standardisierungsstrategie, dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und der EU Strategie für einen gemeinsamen europäischen Datenraum („common european dataspace“) ist der „rote Faden“ über alle Gesetzestexte hinweg deutlich erkennbar.
Die EU-Kommission meint es mit den Themen durchaus ernst und setzt diese in überraschender Konsequenz und unter Wahrung der Kohärenz aller relevanten legislativen Vorhaben umfassend und durchaus durchdacht um.
Das umweltfreundliche Bürokratiemonster nachhaltig zähmen
Den erwartbar umfangreichen bürokratischen Belastungen stehen Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Interessensgruppen gegenüber, die vielfach zu wenig bekannt, aber wirkungsvoller sind, als man meinen würde.
Bereits die „alte“ Bauproduktenverordnung von 2011 hat massive Vorbehalte hervorgerufen, unter anderem wegen der ursprünglich vorgesehenen Verpflichtung, bei jedem Materialverkauf die Leistungserklärungen in Papierform beizulegen. Dies wurde der Kommission als sinnlos, umweltschädlich und organisatorisch kaum zu bewältigen berichtet, was zur Einführung der digitalen Bereitstellung geführt hat. Die Kommission mag schlechte Ohren haben, bisweilen hört sie dann aber doch zu.
Die Kommission unternimmt gemeinsam mit nationalen Organisationen – in Österreich vor allem der Wirtschaftskammer und den Baustoffverbänden - erhebliche Anstrengungen, die Betroffenen mit Informationen zu erreichen und ihnen die Beteiligungsmöglichkeiten zugänglich zu machen.
In Österreich sind hier unter anderem Dr. Heinrich Pecina von der umweltpolitischen Abteilung der Wirtschaftskammer und Dr. Verena Halmschlager von der Industrieplattform 4.0 sowie der Verband österreichischer Baustoffhändler und die Bundesinnung Baugewerbe sehr aktiv. Es werden laufend Webinare, Infoveranstaltungen und Stakeholderbeteiligungsmöglichkeiten organisiert, an welchen auch der Autor dieses Textes immer wieder gestaltend teilnimmt. Die kumulierten Rückmeldungen der Marktteilnehmer werden dann an die europäische Kommission weitergeleitet und finden über die österreichischen Delegierten auch in die Standardisierungsarbeit Eingang, etwa in der CEN/CENELEC JTC 24.
Ein höchst aufwändiger Prozess - aber geeignet, dem Bürokratiemonster die schärfsten Zähne zu ziehen, ohne die Nachhaltigkeitsbemühungen der europäischen Union komplett in Frage zu stellen.
Entschärfungen gegenüber dem ersten Entwurf
Bereits die vergangenen Bemühungen haben wesentliche Verbesserungen des aktuellen Textes gegenüber dem ersten Entwurf ermöglicht:
* Aufwertung der Harmonisierungstätigkeit der europäischen Standardisierung: Bezugnehmend auf die unerfreulich langsamen Fortschritte der Harmonisierung von Normen im letzten Jahrzehnt hatte sich die Kommission umfassende Befugnisse einräumen lassen, Produktsektoren über delegierte Rechtsakte den Bestimmungen der Bauproduktenverordnung zu unterwerfen.Die neuen Formulierungen ermöglichen dies zwar immer noch, aber stark eingeschränkt und nur dann, wenn die Standardisierungsorganisationen die konkreten Projekte nicht oder zu langsam abarbeiten.
* Reduktion der betroffenen Produktbereiche:Im ursprünglichen Entwurf waren 32 Produktbereiche festgelegt zuzüglich einem Bereich für „alle anderen, nicht erfassten Produkte“ – damit unterlag so ziemlich alles den Bestimmungen der EU-BPVO.Die aktuelle Version definiert nun zwar sogar 36 Produktbereiche, aber der offene Bereich für „eh alles“ ist entfallen.
* Gemeinsamer Konformitäts- und Leistungsnachweis:Die vorher getrennten Dokumente für die „Declaration of Performance“ und die „Declaration of Conformity“ wurden zu einem Dokument zusammengefasst.
* Produktprüfungen durch notifizierte Stellen:Der Entwurf von 2022 beinhaltete in den wichtigsten definierten Bewertungssystemen eine umfangreiche Produktprüfung durch die notifizierten Bewertungsstellen (unabhängige Dritte mit quasi amtlicher Stellung, eingesetzt von notifizierenden Behörden) Nunmehr wird dies ersetzt durch eine Verifizierung der werkseitigen Produktionskontrolle, die Einzelproduktprüfung findet nur in begründeten Fällen statt.
* Entfall der „Null-Toleranz“ Bestimmung:der vorige Punkt umfasste auch eine „Null Toleranz“ gegenüber Konformitätsmängeln. Die Prüfungen sind weiterhin streng, aber „angemessen“ statt „null tolerant“.Allerdings, die teilweise Finanzierung der Marktüberwachungsbehörden aus den „abschreckenden“ Sanktionen für festgestellte Konformitätsmängel gibt es weiterhin.
Synchronisierung mit der neuen Ökodesignverordnung:Im ursprünglichen Entwurf gab es noch deutliche Abweichungen von den Bestimmungen der damals noch unvollständigen neuen Ökodesignverordnung. Hier haben die neuen Gesetzestexte Kohärenz hergestellt, sodass sie in den Themenbereichen, welche von beiden Verordnungen betroffen sein können, eine gleichlaufende Vorgangsweise sicherstellen.
* Digitaler Produktpass statt zentraler europäischer Produktdatenbank:Zu diesen Kohärenzmaßnahmen zählt auch der Entfall der im Entwurf beschriebenen zentralen europäischen Produktdatenbank zu Gunsten der Übernahme des digitalen Produktpasses aus der Ökodesignverordnung.Interessant hierbei ist, dass entgegen der üblichen Vorgangsweise in anderen Produktsektoren bei Bauprodukten die Bauproduktenverordnung das ausschlaggebende Instrument für die Regelungen im Detail darstellt und die Ökodesignverordnung nur subsidiär zur Anwendung kommt.Nachdem im Bauwesen so gut wie jeder Produktsektor von Textilien bis Elektronik vorkommt – Ziegel natürlich ebenso –, ist dieser Harmonisierungsschritt der Verordnungen essenziell für das Funktionieren des einheitlichen europäischen Produktpass-Systems.
Auswirkungen auf die Praxis im Bauwesen
Wie sind nun die kommenden Regulative zu bewerten?
Als Wirtschaftstreibender wäre der erwartbare Reflex, auf die systemimmanente Bürokratie zu schimpfen. Als umweltbewusst denkender Mensch könnte man die Frage stellen, ob die Regelung weit genug geht. Die soziale Brille stellt die Folgen auf die Kosten des Wohnraumes in den Vordergrund. Jede dieser Sichtweisen hat ihre Berechtigung.
Die bereits umgesetzten Verbesserungen der Verordnung im legislativen Prozess erleichtern definitiv die Umsetzung, bzw. rücken diese überhaupt erst in den Bereich des Möglichen.
Trotzdem stehen den zu erwartenden Vorteilen im Umweltschutz und der Verbesserung des europäischen Binnenmarktes umfangreiche wirtschaftlich schwer abbildbare Erschwernisse entgegen.
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass verschiedene europäische Mitgliedsstaaten die Umsetzung unterschiedlich ernst nehmen und dadurch eine unerwünschte Marktbeeinflussung entstehen könnte.
Diese Gefahr nimmt der Verordnungstext sehr ernst und arbeitet an diversen Stellen mit Instrumenten, welche eine gleichwertige Umsetzung der Verordnung in allen Regionen der europäischen Union sicherstellen sollen.
Die unter seriösen Politikern unstrittige Notwendigkeit Klima- und Ressourcenschonung voranzutreiben, macht es unabhängig vom Ausgang der kommenden EU-Wahlen unwahrscheinlich, dass die Bestimmungen in wesentlichem Umfang zurückgenommen werden.
Wettbewerbliche Klagemöglichkeit
Deshalb führt an Bemühungen zur Umsetzung kein Weg vorbei. Erschwerend kommt die Möglichkeit zivilrechtlicher Klagen gegen säumige Wettbewerber hinzu.
Konnte man sich bei der Datenschutz-Grundverordnung noch auf großflächiges Exekutivversagen verlassen, weil kaum privatwirtschaftliche Interessen gegenüber Wettbewerbern einklagbar waren, ist bei der Bauproduktenverordnung doch damit zu rechnen, dass der eine oder andere Mitbewerber fehlende Produktkonformitäten anprangert.
Auch über das vorgeschriebene Meldeportal der Marktüberwachungsbehörden ist dies sehr einfach umsetzbar und führt bei tatsächlichen Konformitätsmängeln zum Verkaufsverbot der betroffenen Produkte. In der gesamten Union.
Empfohlene Maßnahmen
Wirtschaftsakteure („economic operators“) können sich die kommenden Jahre erheblich erleichtern, wenn sie rechtzeitig (also spätestens heute) die erforderlichen internen Ressourcen bereitstellen und externen Ressourcen anfragen um
* Produkteigenschaften und Nachhaltigkeitsparameter zu ermitteln und nachzuweisen
* ihre innerbetriebliche Datenhaltung auf die kommenden Anforderungen vorzubereiten
* die erforderlichen Zertifizierungsmaßnahmen durchzuführen
* und die geforderten Gebrauchs- und Wartungshandbücher vorzubereiten
Die Vorbereitung betrifft nicht nur produzierende Unternehmen oder „In Verkehr Bringer“ sondern auch planende und ausführende Unternehmen, welche teilweise heute schon Nachweispflichten umzusetzen haben. Etwa für Kunden, welche schon 2024 eine verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung im Rahmen der nichtmonetären Bilanzierungsvorschriften erfüllen müssen.
Datengold im Bauwesen
Nicht zuletzt sind die professionalisierten Nachweise und vor allem das Instrument des digitalen Produktpasses eine unfassbar wertvolle Datenquelle für alle Prozesse über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes.
Diese zu nutzen ist eine Aufgabe für sich.
Äußerst lohnend, wenn man es richtig macht.