Gastkommentar : Bauwirtschaft: Bei Nachhaltigkeit in Verzug
Vorboten und entscheidender Einschnitt
Noch vor nicht allzu langer Zeit schien alles eitel Wonne: Epochales Wirtschaftswachstum, boomende Nachfrage, unglaublicher Investitionshunger weltweit. Dann kam Corona, vorübergehende Unsicherheit und beschleunigte Transformation durch Klimawandel und Digitalisierung. Doch das ebenso wie die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ im Suezkanal waren nur die Vorboten drohenden Unheils.
Die echten Probleme begannen erst mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Plötzlich war alles anders. Gravierende Rohstoffengpässe, fehlende Bauteile, keine Komponenten mehr für die Produktion, das Ende der offenen Grenzen für Logistiker, explodierende Energie- und Materialpreise, zu allem Überfluss auch noch fehlende Arbeitskräfte im Transportsektor. Die Baubranche in Alarmstimmung. Wer kommt für die höheren Kosten auf? Wie umgehen mit Fixpreisverträgen? Ist die globalisierte und arbeitsteilige Welt am Ende? Die Baustoffindustrie an ihren Grenzen?
Nachhaltigkeit laut Studie höchste Priorität
Eine aktuelle Branchenbefragung der Managementberatung Horváth gibt Entwarnung. Nicht die unterbrochenen Lieferketten, sondern die nachhaltige Geschäftsausrichtung hat für CEOs in der Bauwirtschaft aktuell höchste strategische Priorität, und die Frage, wie sie zu schaffen ist. Zwei von drei Industrieunternehmen in diesem Sektor halten ein ganzheitliches Nachhaltigkeitskonzept für „sehr wichtig“, nahezu 100 Prozent für „wichtig“.
Zentrale Nachhaltigkeitsthemen sind die Produktion und der Bezug nachhaltiger Baustoffe sowie verstärktes Augenmerk auf Kreislaufwirtschaft. Die Bearbeitung dieses Topthemas gestaltet sich jedoch als schwierig, weil im Geschäftsalltag Rohstoffengpässe, Preiserhöhungen oder Fachkräftemangel dringlicher zu bewältigen sind. Für das Gesamtjahr wird trotzdem noch ein Wachstum von sechs Prozent erwartet, für 2023 noch vier Prozent.
Aber: Krisenfolgen trüben Aussichten ein
Vor allem die Folgen des Ukraine-Kriegs treiben die Preise von Baumaterialien. 61 Prozent der befragten Unternehmen machen die gestiegenen Preise zu einem „sehr hohen Anteil“ verantwortlich für die Krisenstimmung in der Branche. Weitere 22% sprechen von einem „hohen“ Einfluss. Es mangelt an vielen Materialien wie Stahl und Bitumen, größere Projekte wie Brücken und Autobahnen geraten ins Stocken. Trotz hoher Auftragsbestände und Investitionsrückstände in der deutschen Infrastruktur sind die Marktaussichten daher durchwachsen.
Das statistische Bundesamt in Wiesbaden vermeldete für Deutschland einen Auftragsrückgang um real 16,4 Prozent allein im April 2022 – das ist der größte Einbruch seit 2012. Für das Gesamtjahr prognostiziert die Branche trotzdem noch ein Umsatzplus von 6,8 Prozent im Vergleich zu 2021. Mit einer Entspannung der Lieferengpässe wird vorerst zwar nicht gerechnet, aber auch für 2023 wird eine vierprozentige Umsatzsteigerung erwartet. Damit liegt die Bauwirtschaft unter dem Branchendurchschnitt (2022: 8,1 %, 2023: 6,6 %), aber deutlich über den Erwartungen der Wirtschaftspessimisten.
Dekarbonisierung stockt
Doch gerade vor diesem durchaus positiven Hintergrund darf die Notwendigkeit zur Dekarbonisierung der Bauwirtschaft nicht zum reinen Lippenbekenntnis verkommen.
Befragt nach den Themen, die das Management derzeit mit Hochdruck bearbeitet, nennen die Befragten wenig überraschend an erster Stelle die Bewältigung der Preissteigerungen, gefolgt von der Rekrutierung dringend benötigter Fachkräfte sowie einer resilienteren Aufstellung der Lieferketten. Strategien zum Bezug nachhaltiger Materialien landen erst an vierter Stelle. Nur 37 Prozent der Befragten räumen diesem Thema sehr hohe Relevanz ein. Es überrascht deshalb nicht, dass 44 Prozent der befragten Baumanager noch gar kein Zielbild zur „Green Transformation“ definiert haben. Auch die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft und die Optimierung der Energieeffizienz stehen weiterhin unter ferner liefen. Dabei haben einige Bauunternehmen gar keine schlechte Basis. So setzt bereits jedes dritte Unternehmen der Bau- und Bauzulieferindustrie entsprechende Maßnahmen zur Dekarbonisierung um.
Die Digitalisierung wird für viele Bauunternehmen hingegen immer mehr zum Standard; der Vorstandsfokus hat im Vergleich zum Vorjahr abgenommen. Im Ranking der Prioritäten hat auch die Gebäudeautomation stark verloren, etwa zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das gilt auch für „Cloudbasierte Prozesse in Bauprojekten“. Business Information Modelling (BIM) schaffte es heuer nur noch auf Platz 8 der Faktoren mit großem Einfluss auf die Branche.
Fazit
- Nachhaltigkeit ist im strategischen Fokus der Baubranche angekommen, doch in der Umsetzung in Verzug.
- Jetzt sind krisensichere Bezugsquellen für Baustoffe und Energie und die Bewältigung des Fachkräftemangels das Gebot der Stunde.
- Es bleibt zu hoffen, dass das die guten Wachstumsprognosen, Digitalisierung und der Trend zu mehr Klimaschutz für eine nachhaltigere Produktion und Logistik sorgen.