Baurecht : Vollständigkeitsgarantien – bis an die Grenze der Zulässigkeit
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Unter einer Vollständigkeitsgarantie versteht man, kurz zusammengefasst, dass der Auftragnehmer sich zur Erbringung sämtlicher für die Erreichung der funktionsfähigen Herstellung des geschuldeten Werks notwendigen Leistungen zum vereinbarten Preis verpflichtet, auch wenn diese in den Vertragsgrundlagen nicht ausdrücklich erwähnt sind. Ob eine solche Vollständigkeitsgarantie auch tatsächlich rechtswirksam vereinbart wurde, beziehungsweise ob die konkrete Vereinbarung überhaupt zulässig ist, bedarf jedoch einer genauen Prüfung im Einzelfall.
Grundsätzlich kann eine vertraglich vereinbarte Vollständigkeitsgarantie erst dann zur Anwendung kommen, wenn das vom Auftraggeber erstellte Leistungsverzeichnis widersprüchlich oder vielmehr unvollständig ist. Insbesondere bei großen Bauvorhaben versuchen einige Auftraggeber, das grundsätzlich beim Auftraggeber liegende Beschreibungsrisiko durch Vollständigkeitsklauseln oder damit verbundene Vollständigkeitsgarantien vertraglich auf ihren Auftragnehmer zu überwälzen. Dieser Beitrag soll ein Überblick darüber liefern, wann Vollständigkeitsgarantien bei einem Einheitspreisvertrag zulässig sind und was dabei beachtet werden sollte.
Beschreibungsrisiko
Bevor auf die Zulässigkeit der Vereinbarung von Vollständigkeitsgarantien eingegangen wird, bedarf es zunächst einer Erläuterung, warum solche Vereinbarung überhaupt in den Verträgen vereinbart werden. Dazu muss zunächst beleuchtet werden, dass der Auftraggeber das sogenannte Beschreibungsrisiko trägt. Der Auftraggeber ist verpflichtet, den Leistungsumfang des Auftragnehmers vollständig und richtig zu beschreiben.
Das ergibt sich schon aus Punkt 4. der ÖNORM B 2110. Darin werden Pflichten des Auftraggebers im Zusammenhang mit der Beschreibung der Leistung geregelt. Punkt 7.2.1 der ÖNORM B 2110 ordnet in diesem Zusammenhang dem Auftraggeber auch das Risiko aus den vom Auftraggeber zur Verfügung gestellten Ausschreibung- und Ausführungsunterlagen zu. Den Auftraggeber trifft somit grundsätzlich das Risiko, wenn der Leistungsumfang unvollständig oder undeutlich beschrieben ist.
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Risikoüberwälzung
Zur Überwälzung dieses Risikos sehen sogenannte Vollständigkeitsgarantien dementsprechend häufig vor, dass Leistungen, die zur Fertigstellung des Werkes erforderlich sind und nicht in der jeweiligen Leistungsbeschreibung enthalten sind, vom Auftragnehmer ohne gesonderte Vergütung zu erbringen sind. Eines der wichtigsten Elemente für die Frage der Zulässigkeit solcher Vollständigkeitsklauseln oder Vollständigkeitsgarantien ist die Kalkulierbarkeit des dadurch vom Auftragnehmer übernommenen Risikos. Die Kalkulierbarkeit setzt daher die eindeutige Beschreibung des zu übernehmenden Risikos voraus. In diesem Zusammenhang hat der Oberste Gerichtshof (OGH) bereits festgehalten, dass die Grenze der Zulässigkeit für die Risikoüberwälzung die Unkalkulierbarkeit darstellt.
Unkalkulierbar sind Risiken, wenn die Beschreibung der Leistung durch den Auftraggeber so abstrakt ist, dass eine rationale, rechnerisch nachvollziehbare Kalkulation der Preise nicht möglich ist. Unkalkulierbare Risiken liegen demnach vor, wenn die Bieter bei der Angebotskalkulation spekulieren, also im Wesentlichen raten müssen.
Besonderheiten bei öffentlichen AG
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass das Bundesvergabegesetzt (BVergG 2018) sogar ein ausdrückliches Verbot für öffentliche Auftraggeber vorsieht, unkalkulierbare Risiken auf die Bieter zu überwälzen. Gemäß § 88 Abs 1 BVergG 2018 sind die Ausschreibungsunterlagen nämlich so auszuarbeiten, dass die Preise ohne Übernahme nicht kalkulierbarer Risiken und ohne unverhältnismäßige Ausarbeitung von Bietern ermittelt werden können.
Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass es nur öffentlichen Auftraggebern untersagt wäre, unkalkulierbare Risiken auf den Auftragnehmer zu überwälzen. Die Besonderheit darin liegt allein in dem Umstand, dass es dafür eine eigene gesetzliche Bestimmung im BVergG 2018 gibt.
Sittenwidrigkeit als Korrektiv
Im Fall von nicht-öffentlichen Auftraggebern bildet demgegenüber die Sittenwidrigkeit oder die gröbliche Benachteiligung des jeweiligen Auftragnehmers die Grenze der Zulässigkeit für die Risikoüberwälzung. Sittenwidrigkeit der vertraglich vereinbarten Vollständigkeitsgarantien ergibt sich dabei in aller Regel daraus daraus, dass Bieter bzw spätere Auftragnehmer im Zuge der Angebotslegung nicht in der Lage sind, den gesamten Leistungsumfang (sohin sämtliche für die Erreichung der funktionsfähigen Herstellung des geschuldeten Werks notwendigen Leistungen) anhand der Ausschreibungsunterlagen zu erfassen.
Das Angebot wird in der Regel unter erheblichem Zeitdruck erstellt, sodass es dem Auftragnehmer nicht zugemutet werden kann, jede Abweichung zwischen dem Leistungsverzeichnis, den Plänen oder etwaigen technischen Berichten festzustellen. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass das maßgebliche Dokument für die Angebotskalkulation des Auftragnehmers das Leistungsverzeichnis ist. Weiters ist zu betonen, dass das Angebot von Bietern in aller Regel unentgeltlich erstellt wird und es daher nachvollziehbar erscheint, dass dem späteren Auftragnehmer auch noch eine Haftung übertragen wird oder er auf Werklohnansprüche zu verzichten hat, wenn Umstände zutage treten, die für ihn nicht vorhersehbar waren.
Die einschlägige Fachliteratur hat betreffend die Feststellung der Sittenwidrigkeit von Vollständigkeitsgarantien einige Parameter festgesetzt. So sind dahingehende Vertragsklauseln insbesondere dann sittenwidrig, wenn sie für den Auftragnehmer zu einer unzumutbaren Belastung führen, insbesondere weil sie unvorhersehbar oder nicht kalkulierbar waren. Wenn für die Übernahme des Risikos kein Gegenwert gewährt wird oder nur ein solcher, der in einem auffälligen Missverhältnis zu der übertragenen Last / den übertragenen Risiken steht, hat dies ebenso die Sittenwidrigkeit der betreffenden Vertragsbestimmung zufolge.
Zuletzt sind Vollständigkeitsgarantien dann sittenwidrig, wenn die Risikoübertragung im Verhältnis zu den vertraglichen Rechten und Pflichten der Vertragsparteien als übermäßig oder unverhältnismäßig bewertet werden kann. Oder wenn das Risiko, auch wenn es kalkulierbar ist, aus der Sphäre des Auftraggebers stammt und kein sachlicher Grund für eine unentgeltliche vertragliche Überwälzung dieses Risikos auf den Auftragnehmer spricht.
Fazit
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die vertragliche Vereinbarung von Vollständigkeitsgarantien grundsätzlich bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit zulässig ist. Die Sittenwidrigkeit liegt dabei in der Regel darin, dass unkalkulierbare Risiken auf die Bieter / Auftragnehmer überwälzt werden.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Bieter anhand der vom Auftraggeber zur Verfügung gestellten Ausschreibungsunterlagen bei ihrer Angebotslegung spekulieren müssen, sohin eine rationale, rechnerisch nachvollziehbare Kalkulation der Preise nicht mehr möglich ist.
Keypoints
* Aufgrund des Beschreibungsrisikos ist der Auftraggeber verpflichtet, den Leistungsumfang des Auftragnehmers vollständig und richtig zu beschreiben;
* Mit sogenannten Vollständigkeitsgarantien wird oftmals versucht, das Risiko der unvollständigen Leistungsbeschreibung vom Auftraggeber auf den Auftragnehmer zu überwälzen;
* Eine Überwälzung ist solange zulässig, als das Risiko der unvollständigen Leistungsbeschreibung für den Auftragnehmer kalkulierbar ist;
* Sofern der Auftragnehmer bei der Angebotskalkulation anhand der Ausschreibungsunterlagen nur mehr "raten" kann, ist die entsprechende Vollständigkeitsgarantie sittenwidrig.