Ein solches Abstellen auf den Einzelfall unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Angemessenheit wird u.E. nun auch in Bezug auf die Dauer einer einzelnen Maßnahme zur berücksichtigen sein. Wurde beispielsweise ein ganzes Paket von effektiven Selbstreinigungsmaßnahmen geschnürt und ist eine personelle Maßnahme wie der Entzug einer Prokura oder Leitungsfunktion nur eine einzelne, untergeordnete Maßnahme, die eine Person mit eher geringem Tatbeitrag betrifft, wird die Wiedererteilung der Prokura oder das Wiedereinsetzen in die Leitungsposition nach einem Wohlverhaltenszeitraum (ähnlich einer Probezeit) u.E. jedenfalls auch schon vor Ablauf der maximalen Ausschlussfrist des § 83 Abs 5 BVergG möglich sein, ohne eine Ineffektivität der übrigen Selbstreinigungsmaßnahmen zu riskieren. Anders gelagert mag der Fall sein, wenn die personelle Maßnahme die Hauptmaßnahme der Selbstreinigung darstellt und/oder die Verfehlung besonders schwer wiegt. In einem solchen Fall wird es einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, wenn die personelle Maßnahme vor Ablauf der maximalen Ausschlussfrist geändert werden soll. Maßgeblich bei der Beurteilung der Auswirkung der Rückgängigmachung einer personellen Selbstreinigungsmaßnahme ist sicherlich der konkrete Tatbeitrag der betroffenen Person (und hat eine strafrechtliche Verurteilung stattgefunden oder nicht), deren zwischenzeitiges Wohlverhalten, die Zeitspanne dieses Wohlverhaltens, die Position der involvierten Person und allfällige flankierende Maßnahmen (wie z.B. Gesamtprokura statt Einzelprokura, Anweisungen, zeitnahe und stringente Überprüfungen etc) und generell die Frage der Angemessenheit eines Ausschlusses von öffentlichen Aufträgen. Im Übrigen wird auch noch zu bedenken sein, welche ergänzenden Zusagen (z.B. keine Angebotsbearbeitung seitens "involvierter" Personen) einem öffentlichen Auftraggeber gegenüber allenfalls gegeben wurden und weiterhin einzuhalten sind.
Denkbar ist daher uE auch, dass "involvierten" Personen nach einem Wohlverhaltenszeitraum sogar eine Geschäftsführungsposition (wieder)eingeräumt wird. Natürlich immer im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung (Stichwort Tatbeitrag) und Abwägung der Angemessenheit und Effektivität der Maßnahmen. Möchte man hier einen Widerspruch zu einem funktionierenden Compliance–System, im Besonderen zur Anforderung "tone from the top" sehen, so ist dem entgegenzuhalten, dass darin – ganz im Gegenteil – sogar ein Zeichen eines besonders effektiven Compliance-Systems, konkret einer funktionierenden Compliance-Kultur gesehen werden kann. Hat eine involvierte Person beispielsweise ihr Fehlverhalten reumütig eingestanden, aktiv kooperiert und zur Aufklärung eines Fehlverhaltens beigetragen sowie sich anschließend wohl verhalten, kann dies eine positive Vorbildfunktion darstellen und hinkünftig Mitarbeiter motivieren, Vorfälle zu melden und aufzuklären. Darüber hinaus kann es zu einer "Vertrauens-Kultur" im Gegensatz zu einer "Vernaderungs-Kultur" im Unternehmen beitragen und damit wiederum das Compliance-System stärken.
Eine Selbstreinigung soll u.E. nicht nur für das Unternehmen selbst, sondern auch für "involvierte" Personen möglich sein. Letztlich ist dies ja auch der eigentliche Grundgedanke der Selbstreinigung: Bieter (und damit auch allfällig involvierte Mitarbeiter) sollen im Fall einer Verfehlung diese eingestehen, sich dazu bekennen, Schadenswiedergutmachung zu leisten, Maßnahmen zur Verhinderung setzen und in Zukunft keine neue Verfehlung mehr begehen und so Auftraggebern als zuverlässige Partner zur Verfügung stehen.
Selbstverständlich ist dabei entscheidend, dass die Selbstreinigungsmaßnahmen in ihrer Gesamtheit effektiv bleiben, damit eine Prognoseentscheidung eines Auftraggebers positiv ausfallen kann.