SOLID 05/2021 : Lieferprobleme oder Preissteigerung: rechtlich wichtiger Unterschied
Aktuell sieht sich die Baubranche mit zahlreichen Komplikationen im Zusammenhang mit Materialien und Baustoffen konfrontiert. Diese stellen sich insbesondere durch eingeschränkte Verfügbarkeit, Lieferschwierigkeiten und erheblichen Preissteigerungen dar. Die nach wie vor vorherrschende COVID-19-Pandemie trägt zweifellos nicht zur Minderung dieser Komplikationen bei. In diesem Artikel versuchen wir, einen Überblick über den Umgang mit diesen Entwicklungen in Bauverträgen zu geben.
Ausgangspunkt der Diskussion: Risikoverteilung
Die Erfahrung zeigt, dass in der Abwicklung eines Bauvertrags bei überraschenden Entwicklungen der erste Blick regelmäßig auf die Regelungen zur Risikoverteilung erfolgt, um vorab zu klären, ob sich ein Ereignis und dessen Folgen in der Sphäre des AG (Auftraggeber) oder des AN (Auftragnehmer) niederschlagen. Gerade im Zusammenhang mit den zahlreichen diesbezüglichen Stellungnahmen hinsichtlich der COVID-19-Situation und der Qualifizierung der Pandemie als Ereignis höherer Gewalt wird die Sphärentheorie sehr (häufig auch "zu") vereinfacht dargestellt. Festzuhalten ist, dass die COVID-19-Situation als Zustand an sich zwar als Ereignis höherer Gewalt angesehen werden kann, per se jedoch nur deren Folgen (Grenzschließungen, behördliche Maßnahmen etc.) Auswirkungen auf Vertragsverhältnisse haben.
Es entwickelte sich die verkürzte Darstellung, dass höhere Gewalt beim ABGB-Vertrag in der AN-Sphäre und beim ÖNORM-Vertrag in der AG-Sphäre liegt. Diese Ansicht ist im Ergebnis auch grundsätzlich zutreffend, gerade im Anwendungsbereich der ÖNORM B 2110 lohnt sich jedoch ein genauer Blick auf den Wortlaut der relevanten Bestimmung in Punkt 7.2.1.
Die ÖNORM-Regelung spricht nämlich nicht von höherer Gewalt, sondern ordnet der Risikosphäre des AG jene Ereignisse zu, welche 1) die vertragsgemäße Ausführung der Leistung objektiv unmöglich machen, oder 2) welche zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht vorhersehbar waren und vom AN nicht in zumutbarer Weise abwendbar sind. Nur wenn eine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt sind, ist das Ereignis der AG-Sphäre zuzuordnen.
Hat der AN Mehraufwände, so kann er daher nur dann Ansprüche daraus ableiten, wenn ein Ereignis aus der AG-Sphäre respektive dessen Auswirkung ursächlich für den Mehraufwand ist. Der AN ist für das Vorliegen eines Ereignisses aus der AG-Sphäre und für die Kausalität hinsichtlich des Mehraufwands voll behauptungs- und beweispflichtig.
Exkurs: Anscheinsbeweis oder voller Beweis
Ein Beweis gilt grundsätzlich dann als gelungen, wenn das Gericht von der Richtigkeit der Behauptung überzeugt ist. Das Regelbeweismaß (der sogenannte Vollbeweis) ist die hohe Wahrscheinlichkeit. Gerade wenn es um den Beweis der Ursache und deren Wirkung (Kausalität) geht, bietet der sogenannte Anscheinsbeweis eine Erleichterung für den Beweispflichtigen.
Dieses Beweismaß beruht auf der allgemeinen Erfahrung, wonach bestimmte Geschehnisabläufe typisch sind und es daher auch wahrscheinlich ist, dass in einem konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf gegeben ist. Der Gegner kann den Anscheinsbeweis damit entkräften, dass er eine andere ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines Geschehnisablaufs als des gewöhnlichen darlegt.
Ob die Möglichkeit der Beweiserleichterung in Form eines Anscheinsbeweises in Betracht kommt, liegt naturgemäß in der konkreten Lagerung des Einzelfalls, da grundsätzlich nicht für jede Fallkonstellation typische Geschehnisabläufe denkbar sind.
Bedeutung für Lieferschwierigkeiten
Soweit eingangs auf aktuelle Lieferschwierigkeiten eingegangen wurde, ist festzuhalten, dass allfällige Ansprüche auf Anpassung der Leistungsfrist und/oder des Entgelts gemäß den zuvor skizzierten Voraussetzungen grundsätzlich denkbar sind.
Nimmt man etwa ein Projekt in Österreich an, wobei das zur Ausführung erforderliche Material nur aus Italien geliefert werden kann, kann eine behördliche Grenzschließung (etwa aufgrund von COVID-19-Maßnahmen) zwischen Österreich und Italien folgendermaßen beurteilt werden: Der AN ist dadurch in seiner Leistungserbringung gestört. Die Nichtverfügbarkeit des Materials macht einerseits die Ausführung der Leistungen unmöglich. Andererseits war die Grenzschließung für den AN bei Vertragsabschluss nicht vorhersehbar und kann auch nicht abgewendet werden Für die Unmöglichkeit der Ausführung der Leistung oder die Unvorhersehbarkeit und Unabwendbarkeit ist der AN beweispflichtig. Gelingt dieser Beweis, so ist von einem Ereignis in der AG-Sphäre auszugehen (im ÖNORM-Vertrag). Der AN hat darüber hinaus jedoch auch zu beweisen, dass dieses Ereignis respektive dessen Auswirkungen für seinen monetären und zeitlichen Mehraufwand ursächlich ist. Gelingt auch dieser Beweis, so besteht ein Anspruch des AN auf Anpassung der Leistungsfrist und/oder des Entgelts.
Bedeutung für reine Preissteigerungen
Aus unserer Sicht ist jedoch fraglich, ob dies ebenfalls gilt, wenn das Material nicht nur aus Italien geliefert werden kann, sondern auch in Österreich – zu einem erheblich höheren Preis - beschafft werden kann. Ein Ereignis wie behördliche Grenzschließungen hat in diesem Fall schließlich nur Auswirkungen auf die Gestehungskosten des AN und nicht auf die Ausführung der Leistung. Mit anderen Worten bedeutet dies, die Leistungserbringung an sich wird dadurch nicht behindert, wenn die alternative Beschaffung nicht gleichzeitig mit Verzögerungen verbunden ist.
Beim Festpreis bleibt der Preis auch beim Eintreten von Änderungen der Preisgrundlagen (KV-Löhne, Materialpreis etc) für den vereinbarten Zeitraum unverändert. Der AN kalkuliert hier in der Regel einen Festpreiszuschlag, welcher unter Umständen auch höher sein kann als eine an den AG weitergegebene Preissteigerung bei Vereinbarung veränderlicher Preise. Die Kalkulation des Festpreiszuschlages und insbesondere die diesbezügliche Risikoabwägung liegt in der Disposition des AN. Geschätzte zukünftige Preisänderungen werden in der Regel im Wagniszuschlag eingerechnet.
Veränderliche Preise können hingegen bei der Änderung vereinbarter Grundlagen geändert werden. Als entsprechende Grundlagen werden in der Regel übliche Indizes vereinbart. Kommt es im Zuge der Ausführung zu höheren Materialpreisen, so ist zu prüfen, ob diese Preissteigerung durch die als Grundlagen vereinbarten Indizes abgebildet wird.
Haben die Parteien im Vertrag nichts zur Preisart vereinbart, so gelten die Preise im ABGB-Vertrag im Zweifel als Festpreise. Im ÖNORM-Vertrag gelten in diesem Fall die Preise für Leistungen innerhalb 6 Monate nach Ende der Angebotsfrist als Festpreise; die darüberhinausgehenden als veränderliche Preise.
Ein Vertragsanpassungsanspruch des AN bei reinen Preissteigerungen (Annahme: alternative Beschaffung ist mit keinen Erschwernissen oder Verzögerungen verbunden) scheitert unseres Erachtens bereits am Fehlen einer Leistungsänderung oder -störung. Im ABGB-Vertrag trägt ohnehin der AN das Risiko für Ereignisse aus der neutralen Sphäre. Bei reinen Preisänderungen wird es sich jedoch auch im ÖNORM-Vertrag grundsätzlich nicht um Auswirkungen eines Ereignisses handeln, welches gemäß Punkt 7.2.1 ÖNORM B 2110 in der Risikosphäre des AG liegen. Die Leistungserbringung wird durch geänderte Preise nämlich definitiv nicht unmöglich. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass selbst erhebliche Preisänderungen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unvorhersehbar für den AN sind.
Selbst wenn eine Preisänderung als unvorhersehbar und nicht in zumutbarer Weise abwendbar qualifiziert werden sollte, so wird ein Vertragsanpassungsanspruch regelmäßig am Beweis der Kausalität scheitern. Selbst der Anscheinsbeweis, dass etwa Folgen der COVID-19-Pandemie für sich genommen ursächlich für einen konkret vorherrschenden Materialpreis sind, wird daran scheitern, dass für den aktuellen Materialpreis stets auch andere ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeiten ursächlich sind können.
Bei Lieferschwierigkeiten und Materialpreisänderungen prüfen, ob dem Vertrag die ÖNORM B 2110 / B 2118 zugrunde liegt
nur dann liegen Ereignisse, welche die Ausführung der Leistung objektiv unmöglich machen oder bei Vertragsabschluss unvorhersehbar und nicht in zumutbarer Weise abwendbar sind, in der AG-Sphäre
vom AN ist zu beweisen, dass ein Ereignis aus AG-Sphäre oder dessen Auswirkung ursächlich (kausal) für einen monetären oder zeitlichen Mehraufwand des AN ist. Unter Umständen kann hier der Anscheinsbeweis ausreichen.
Lieferschwierigkeiten aufgrund eines Ereignisses aus der AG-Sphäre berechtigen den AN regelmäßig zur Vertragsanpassung – reine Preisänderungen als Auswirkungen auf die Gestehungskosten des AN in der Regel nicht
Das Risiko von Preisänderungen ist im Rahmen der Vertragsgestaltung zu berücksichtigen – Festpreis oder veränderlicher Preis sowie Definition der Preisgrundlagen