SOLID 04 / 2014 : Europas größte Kanalbaustelle: Im Reich des „Dritten Mannes“
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An diesem sonnigen Tag Ende März scheint in Simmering die Hektik der Wiener Innenstadt ganz weit weg. Am Hauptplatz stehen ältere Herrschaften am Würstlstand, Schüler kaufen Semmeln und Limonade beim Bäcker, zwei Damen suchen sich einen Strauß bei der Blumenfrau aus. Geht man von hier Richtung Donau, kommt zuerst ein ruhiges Wohngebiet. Dahinter beginnen in die Jahre gekommene Gewerbebauten entlang an breiten Ausfallstraßen.
Noch ein paar Schritte weiter sieht man die beiden Kamine des Kraftwerks Simmering hoch in den Himmel ragen. Direkt gegenüber, in der Haidestraße 10, lockt ein verlassenes Schild des Sportclubs Mautner Markhof zu einem kühlen Bier nach dem Training. Doch Gäste gab es hier seit dem vergangenen Herbst keine mehr – und von der Gemächlichkeit des südöstlichsten Bezirks von Wien ist an diesem Ort auch nicht mehr viel übrig.
Am Fußballgrund
Am Eingang zum Gelände des Sportvereins stehen heute Baucontainer. Daneben dröhnen im Minutentakt schwere Lastwagen vorbei. Sie biegen von der Straße ein, werden randvoll mit Grund beladen, fahren auf die Reifenwaschanlage und machen gleich dem nächsten Lkw Platz, der schon in der Einfahrt wartet.
Hinter der Lkw-Rampe eröffnet sich der Blick auf eine Baugrube, die so groß ist wie ein Baggersee. Schwere Maschinen schaufeln Erde und schieben sie nach oben. Am anderen Ende der Baugrube wird gerade Zement angeliefert. An der Seite fährt ein Liebherr 280-Kran auf Gleisen hin und her.
Genau da, wo früher die Fußballer Simmerings Matches ausgetragen haben, entsteht in den nächsten drei Jahren ein riesiges Speicherbecken – und dazu zwei Transportkanäle mit einer Länge von insgesamt zwei Kilometern und einem Außendurchmesser von 2,5 Metern. Das sind Dimensionen, die das Bauprojekt aktuell zum größten Kanalbau Europas machen.
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Rückkehrrecht der Kicker
Wenn im Herbst 2016 alles fertig ist, kommen die Kicker vom SC Mautner Markhof zurück – sie bekommen genau an derselben Stelle, gleichsam „auf dem Dach“ des Speicherbeckens, einen nagelneuen Sportplatz plus eine Flutlichtanlage hingestellt. Doch bis dahin ist noch viel zu tun. Rund ein Dutzend Baufirmen setzen den Bauauftrag von Wien Kanal um, und zwar unter der Führung der Porr und ihres Arge-Partners Strabag Bau. Für sie ist diese Baustelle nicht nur wegen ihrer Dimensionen besonders, sondern auch aus Gründen, die man auf den ersten Blick gar nicht sieht.
Bauleiter Thomas Jantschitsch von der Porr Bau erklärt: „Spannend an dem Projekt ist, dass das Becken und der Kanal voll im Grundwasser liegen. Aufgrund des Grundwasserspiegels konnen wir keinen offenen Kanal verlegen, deshalb passiert das in der Grabenlos-Bauweise.“ Zusätzlich bestehe hier, wenige hundert Meter von der Donau entfernt, der Grund vor allem aus sehr lockerem Kies und Sand. Das bedeutet: Bohren unter erschwerten Bedingungen.
Von Menschen gemachter Klimawandel als Bedrohung
Der Anlass für dieses Bauprojekt kommt mehrmals im Jahr von ganz oben – Starkregen setzt dem Kanalsystem von Simmering, dem topografisch tiefsten Bezirk der Stadt, regelmäßig zu.
Aufgrund der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung werden diese Starkregenereignisse häufiger, und währenddessen nehmen auch die Hochwassergefahren massiv zu. Zwar verlief das jüngste Hochwasser im Sommer 2013 für die Wiener glimpflich, doch dass es auch schlecht ausgehen kann, konnten die Simmeringer zuletzt am 13. August 2010 erleben. Damals fielen in wenigen Minuten 40 Liter Regen pro Quadratmeter – eine Menge, die eher für die Tropen als für Mitteleuropa üblich ist. Verstopfte Kanäle, überflutete Straßen und Hauskeller im ganzen Bezirk waren die Folge. Deshalb reagiert Wien Kanal mit einem ganzen Maßnahmenpaket – das Ziel ist eine gigantische, „kaskadenförmige Stauraumkette“, die drei Bezirke und eine Fläche von rund 20 Quadratkilometern vor Überflutungen schützt – und das Speicherbecken Simmering ist der letzte noch fehlende Teil. Allein dieses Becken kann dann 28,5 Millionen Liter Wasser speichern. Mit dem Abschluss der Bauarbeiten in Simmering steht dann ein kilometerlanges Kanalnetz mit beachtlichen 86 Millionen Litern Speichervolumen bereit – genug, in Zukunft um den Südosten von Wien so gut wie möglich vor der nächsten Überflutung zu schützen. Das letzte Kettenglied fehlt nochMehrere Stufen der Stauraumkette sind bereits fertiggestellt und bieten bereits jetzt ein Speichervolumen von 51 Millionen Litern. Ein Element des Systems ist die Kläranlage Blumental im 23. Wiener Bezirk, die zu einem Speicherbecken umgebaut wurde. Die beiden Rundbecken der ehemaligen Kläranlage verfügen heute über ein Fassungsvermögen von acht Millionen Liter, die der ehemaligen Nachklärbecken über zwölf Millionen Liter. Damit werden hier 20 Millionen Liter Speichervolumen in die Speicherkette eingebunden und können im Regenwetterfall mit 3.000 Litern pro Sekunde befüllt werden. Diese neuen Kapazitäten entlasten das Kanalnetz in Simmering erheblich – allerdings würde das allein nicht reichen. Deshalb wurde bereits auch das Schmutzwasserpumpwerk Kaiserebersdorf aufgerüstet. Das Pumpwerk verfügt heute über eine zusätzliche Schneckenpumpe, die 6.700 Liter Abwasser pro Sekunde zur ebswien, der Hauptkläranlage der Stadt, befördert. Schließlich mündet nach umfangreichen Tiefbauarbeiten auch der Liesinger Entlastungskanal heute in den Liesinger Sammelkanal an und führt bis zur Anlage in Blumental. Hier haben 17 Millionen Liter Platz. Ein Großprojekt, das für den Betreiber selbst so groß gar nicht ist – denn mit einem Netz von mehr als 2.400 Kilometern Länge ist Wien Kanal Österreichs größter Kanalnetzbetreiber. Täglich fließt hier eine halbe Milliarde Liter Abwasser zur Hauptkläranlage. Und jedes Jahr kommen zu dem bestehenden Kanalnetz weitere zehn Kilometer dazu – was wiederum bedeutet, dass permanent irgendwo unter der Stadt gebaut wird. Über 700 Kanalbaustellen verzeichnet Wien Kanal jedes Jahr. 13 Meter unter Null Und trotzdem fällt der Bau des Speicherbeckens Simmering und der zugehörigen Systeme deutlich aus dem Rahmen. Nicht nur, weil hier zugleich die Neuerrichtung einer Sportanlage ansteht, sondern weil das Gelände des SC Mautner Markhof der topografisch tiefste Punkt Simmerings ist – und damit hier permanent unter dem Grundwasserniveau gebaut werden muss. Bauleiter Thomas Jantschitsch erklärt das anhand der Maßeinheit „Wiener Null“, ein Richtwert, mit dem in der ganzen Hauptstadt die Höhe über dem Meeresspiegel gemessen wird: „Früher lag der Sportplatz minus zwei Meter unter Wiener Null. Das künftige Becken liegt -13 Meter unter Wiener Null, das Pumpenhaus -16 Meter.“ Für die Spezialtiefbauer von Porr und Züblin bedeutet das: Die Bohrpfähle, die eigentlich den Bau darüber stabilisieren, wirken hier als Zugpfahl – weil das Speicherbecken sonst „aufschwimmen“ würde, wie Bauingenieure vor Ort erklären. Dieses Kapitel ist bereits abgeschlossen: 148 bewehrte Bohrpfähle mit insgesamt 1700 Laufmetern Länge, einem Durchmesser von 60 Zentimetern und einer Tiefe bis zu 16 Metern verankern das spätere Speicherbecken fest im lockeren Grund. Derzeit im Bau ist die Errichtung einer abgerückten Dichtwand an den Schrägseiten um das Speicherbecken herum , die nicht bewehrt ist und deshalb später aufgeschüttet wird, um statisch nicht belastet zu werden. Als nächstes werden die schrägen Flächen des Beckens betoniert – wobei die Neigung 42 Grad beträgt. Damit die Betonflächen trotz dieser Neigung stehen bleiben, arbeitet die Mannschaft von Thomas Jantschitsch mit einer Konterschalung und engmaschigen Streckmetallgittern, die als „verlorene Schalung“ in die Wand betoniert werden. Wenn „die Wanne“ fertig ist, kommen 60 Fertigteilträger in das Becken, auf die dann Halbfertigteilplatten gelegt werden, und obendrauf Ortbeton. Die Wahl sei auf die Elementdecken gefallen, weil man sich damit das Gerüst, die Einschalung und Zeit spare, erklärt Jantschitsch. Diese Arbeiten sind gerade in der Anfangsphase – im Sommer 2015 soll das Dach des Beckens fertig sein. Größe eines Fußballfelds Nach Fertigstellung ist das Becken 90 Meter lang, 45 Meter breit und sieben Meter tief. Ist die Decke fertig, beginnt die Wiedererrichtung der Sportanlage als ein eigenes Bauprojekt. Ein Teil dieses Projekts ist auch eine neue Flutlichtanlage – ganz schön nobel für einen Sportplatz am Stadtrand. Doch das ist kein Zufall: Die Flutlichtanlage ist gleichzeitig eine Entlüftungsanlage. Wenn die graubraunen Fluten unter dem Fußballplatz ins Becken strömen, muss die Luft schnell entweichen. Kann es später wieder entleert werden, befördern zwei starke Pumpen 300 Litern pro Sekunde wieder in das Kanalsystem – so ist der Speicher schon nach 20 Stunden für den nächsten Starkregen bereit. Neues Netz Die wichtigste Voraussetzung dafür ist ein neues, leistungsfähiges Kanalsystem. Die neuen Kanäle von Simmering werden nach Fertigstellung rund 2000 Meter lang sein und ab dem Sommer in Grabenlos-Bauweise errichtet. Die Wahl sei auf diese Bauweise gefallen, erklären Bauingenieure vor Ort, weil man sonst eine aufwendige Baugrubensicherung mitten im bewohnten Gebiet machen müsste – und es zudem heute große Gas- und Wasserleitungen oberhalb des künftigen Kanals gibt. Die Ausgangspunkte für die Kanalarbeiten sind der Startschacht 1 und 2. Von hier aus bohrt sich dann eine schwere Bohrmaschine von Herrenknecht mit Vollschnittvortrieb rund um die Uhr nach vorn. Im Schacht, der teilweise zehn Meter unter dem ursprünglichen Geländeniveau liegt, baut der Bohrkopf den Grund ab. Das Material wird über Leitungen abgefördert und über den Startschacht ausgehoben. Währenddessen werden gleich hinter den Bohrkopf Fertigteilrohre mit einem Abmessungen von 2,5 Metern außen und zwei Metern innen nach gepresst. Bauleiter Thomas Jantschitsch von der Porr erklärt einen wesentlichen Punkt, auf den es dabei ankommt: „Die Kubatur, die wir abbauen, muss exakt dem Volumen des Rohrs entsprechen. Wenn wir das Doppelte des Rohrvolumens einfordern würden, würde ein Hohlraum entstehen – und deshalb gibt es vorher Aufschlussbohrungen.“ BodeninjektionenEine andere Schwierigkeit ist der bereits erwähnte äußerst lockere Grund. Dieses Problem löst die Mannschaft der Porr und Strabag mit Niederdruckinjektionen – vor der Bohrung wird eine Betonit-Zement-Suspension in den Boden gespritzt, damit er später durchbohrt werden kann. Weil schließlich die Kanäle dem Straßenverlauf folgen müssen, müssen sie grabenlos auch einige Kurven bewerkstelligen – und das, obwohl der Bohrkopf viele Meter vom Startschacht entfernt seine Arbeit leistet, während die Rohrelemente über den Startschacht nachgepresst werden. Wie das funktioniert, erklärt Bauleiter Josef Stockklausner von der Strabag Bau GmbH: Die Richtung der Bohrungen werde permanent und sehr exakt gemessen. „Von hinten kommt eine irrsinnige Schubkraft von 1500 Tonnen“, so Stockklausner. Geht es nun in eine Kurve, würde eigentlich diese gesamte Kraft auf eine Ecke des Zylinders drücken – und deshalb gibt es zwischen den Rohren jeweils zwei Gummischläuche, die mit Stahlmanschetten verstärkt sind und innen eine Hydraulikflüssigkeit haben. Sie verteilen den Druck auf das Rohr, während der Kanalbau gleichsam „in eine Kurve fährt“. Später bleiben die Schläuche im fertigen Kanal, der Zwischenraum zwischen den Rohren wird mit Dichtmaterial verpresst. Und um sicher zu gehen, dass mit dem Kanal und der Bohrmaschine auch alles in Ordnung ist, werden alle 300 Meter zusätzliche Revisionsschächte gebohrt. Fertigstellung 2016Wenn 2016 alles fertig ist und das neue Kanalsystem in Betrieb geht, können die Simmeringer und ihre Nachbarn beim nächsten Hochwasser entspannt schlafen – wobei auch Wien Kanal einräumen muss, dass „trotz aller Anstrengungen ein Restrisiko bestehen“ bleibe. Und auch die Sportler des SC Mautner Markhof können dann mit neuem Elan und hell ausgeleuchtet von einer nagelneuen Flutlichtanlage loslegen. Nur auf einen richtigen Naturrasen müssen sie in Zukunft verzichten – auf dem Hauptspielfeld liegt künftig ein Kunstrasen aus Plastik. Eckdaten des Bauprojekts Projekt: Erichtung eines Seicherbeckens und zweier Transportkanäle in Wien-Simmering Auftraggeber: Stadt Wien – Wien KanalAuftragsvolumen: Rund 28 Millionen EuroAuftragnehmer: Arge aus Porr Bau GmbH und Strabag Bau GmbHSpezialtiefbau: Arge aus Porr und ZüblinTunnelvorbau: Braumann Tiefbau GmbH, OberösterreichErdbau: RiedmüllerBauzeit: Oktober 2013 – Herbst 2016 (inklusive Neubau des Sportplatzes SC Mautner Markhof)
(SOLID 04 / 2014)