SOLID 02 / 2014 : Brückenbau - Bau der größten Hubbrücke der Welt
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Im Westen von Rotterdam ist die Nähe zur Nordsee überall zu spüren. Der Himmel ist weit, die Landschaft ganz flach. Alle paar hundert Meter durchzieht ein breiter Kanal die Szenerie. Doch von einer Strandatmosphäre ist die Stimmung hier, am äußersten Ende des Rhein-Maas-Deltas, weit entfernt – in der Luft liegt ein beständiges Dröhnen. Raffinerien, Fabrikhallen und Schiffskräne wechseln sich mit weitläufigen Autobahnkreuzen ab. Auf dem Wasser tuckern Frachtschiffe vorbei, an Land reihen sich Kolonnen von Lkws aneinander. Nachts ist das Areal vom Weltraum aus gut zu sehen, weil kilometerweit alles taghell erleuchtet ist.
Der Rotterdamer Hafen ist der größte Europas und einer der drei größten der Welt. Hunderttausende Schiffe transportieren hier jedes Jahr Container und Frachtgut: Erdöl, Erze, Waren, Zitrusfrüchte. Dieser Hafen ist das wirtschaftliche Herz der hochindustrialisierten Niederlande. Manchmal sagen Volkswirte, das ganze Land und weite Teile Norddeutschlands seien eigentlich nur das Hinterland des Rotterdamer Hafens. Der Rijksweg 15 geht quer durch
Mittendrin verläuft der Rijksweg 15, der später zur Autobahn A15 wird. Unter der Ouden Maas taucht die A15 in einen Tunnel. Zwei Spuren biegen parallel dazu oberirdisch auf eine Stahlbrücke ab, die alte „Botlekbrug“. Alle Gefahrguttransporter fahren hier über die Brücke, weil sie nicht durch den Tunnel dürfen. Während dessen warten immer mehrere Frachtschiffe entlang des Kanals darauf, dass die betagte Konstruktion sich ächzend hebt. Die Schiffe müssen lange warten – und jedes Mal, wenn die Brücke oben ist, bildet sich auf beiden Seiten sofort ein langer Lkw-Stau.
Das wird nicht mehr lange so bleiben. Direkt neben der alten Hubbrücke hat sich eine Großbaustelle auf einer Fläche von mehreren Fußballfeldern breitgemacht. An beiden Ufern sind heute die Umrisse von Vorlandbrücken erkennbar. Und aus dem braunen Wasser ragen wuchtige Pylone aus Beton, groß wie ein Hochhaus, in den Himmel. Dies wird die neue „Botlekbrug“ sein – die mit Abstand größte Hubbrücke, die je gebaut wurde. Und das Bauprojekt wird die Handschrift mehrerer österreichischer Baufirmen tragen.
Der schwierigste Teil - die Botlek
Die Botlekbrug ist der schwierigste Teil der Erweiterung der A15 auf einer Länge von 37 Kilometern. Den Auftrag mit einem Volumen von 1,5 Mrd. Euro gewann das Baukonsortium A-Lanes unter der Führung der Strabag. Mit dabei sind zwei Baufirmen aus den Niederlanden und eine aus England.
A-Lanes macht alle Autobahnarbeiten und Vorlandbrücken und übernimmt bei der Botlek-Brücke selbst den gesamten Tiefbau und alle Bauteile aus Beton. Die Hubbrücke selbst ruht auf einer Flachgründung aus Unterwasserbeton. Darauf stehen sechs Pylone mit einer Höhe von etwa 60 Metern. Als Generalplaner der Brücke zeichnet das Ingenieurbüro Vienna Consulting Engineers verantwortlich. Die Spezialisten von VCE haben tausende Bauprojekte weltweit erfolgreich abgewickelt, doch dieses Vorhaben ist auch für sie einmalig.
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Autobahn und Eisenbahngleise
Hier einige Eckdaten: Nach Fertigstellung hängen an den sechs Pylonen zwei bewegliche Fahrbahnen aus Stahl, jede davon mit einer Spannweite von 92 Metern und einer Breite von rund 50 Metern. Sie wiegen jeweils 5.000 Tonnen und sind zusammen so schwer wie der Pariser Eiffelturm. Die Stahlbauteile produziert Eiffel Deutschland Stahltechnologie aus Hannover. Diese Ausmaße sind noch nicht alles.
Dazu kommt erstens die Geschwindigkeit: Weil sich hier zwei hochrangige Verkehrswege kreuzen, soll es maximal 90 Sekunden dauern, bis die Brücke oben oder unten ist. Zweitens die ungewöhnlich hohe Hubfrequenz von etwa einer Öffnung pro Stunde, das sind 9.000 Öffnungen pro Jahr. Und schließlich müssen die Stahldecks so exakt wieder unten landen, dass die Eisenbahnschienen befahrbar sind. Was das bedeutet, erklärt Martin Lechner von Waagner-Biro Bridge Systems:
„In der Schienenverriegelung sind Toleranzen von einem Millimeter notwendig. Das heißt: Wenn das Stahldeck mit einer Verfahrhöhe von 31 Metern nach unten fährt, muss es in der unteren Endlage auf den Millimeter genau positioniert sein.“
Kein Vergleich zum Louvre
Dass Martin Lechner praktisch jede Schraube des Bauwerks kennt, ist kein Zufall: Er ist bei Waagner-Biro als technischer Leiter für den gesamten M&E-Anteil dafür verantwortlich, dass alle beweglichen Teile exakt ineinander greifen – und die Brücke nach ihrer Fertigstellung tatsächlich „lebt“.
Im Portfolio des Wiener Unternehmens finden sich viele besondere Projekte, vom Louvre in Paris und Abu Dhabi über den Berliner Reichstag bis zu komplexen Konstruktionen in Peru und Aserbaidschan – für Letzteres gewann das Unternehmen den SOLID Bautechpreis 2011. Doch die Komplexität der Botlekbrücke ist auch für den erfahrenen Brückenbauingenieur Lechner beispiellos.
Allein an diesem Projekt arbeiten bei Waagner-Biro etwa 30 Spezialisten. Sie erarbeiten die Planung, Lieferung und Montage sämtlicher Antriebskomponenten, der Führungselemente für Brücke und Gegengewicht, der Verriegelungen, die gesamte Elektrik und Steuerung sowie verschiedene hydraulische Systeme. Waagner-Biro klärt auch die Schnittstellen zwischen Maschinenbau und allen anderen Gewerken ab und sorgt mit sogenannten Kollisionsprüfungen dafür, dass verschiedene Firmen auf dem begrenzten Raum arbeiten können.
Brückenantrieb
Der Brückenantrieb funktioniert stark vereinfacht so: Im Betonpfeiler sitzen starke Elektromotoren. Diese sind über Getriebe mit Seiltrommeln verbunden. An diesen Seiltrommeln sind die sogenannten Hubseile befestigt. Diese sind einerseits mit dem Stahldeck und andererseits mit dem Gegengewicht verbunden.
Zusätzlich sind das Stahldeck und das Gegengewicht mit den sogenannten Gegengewichtsseilen verbunden. Diese laufen über acht wuchtige Umlenkrollen über die Pylonspitze. Jede Umlenkrolle hat einen Durchmesser von 3,6 Metern und wiegt 12 Tonnen. Das Stahldeck wiegt 5000 Tonnen, die Gegengewichte jeweils 2.500 Tonnen – „gehoben wird nur die Differenzkraft“, erklärt Lechner.
Wer Botlek baut, steht jeden Tag unter Strom. Doch heuer im August wird es einen bestimmten Tag geben, auf den sich die gesamte jahrelange Anstrengung fokussiert – wenn die Stahldecks zwischen die Pylone eingefahren und hochgehoben werden. Dazu Lechner: „An diesem Montageprozess allein sind fünf Unternehmen beteiligt. Gerade gab es einen Kickoff mit 20 Personen, nur um diesen Prozess zu durchleuchten.“
Der Tag, an dem jede Sekunde zähltWas passiert an diesem Tag? Wieder stark vereinfacht: Die fertigen Stahldecks werden auf sogenannte Self Propelled Modular Trailer verladen. Das sind zusammengekoppelte Schwerlastachsen, die extrem große Lasten transportieren können. Die SPMT fahren zusammen mit dem Stahldeck über die Kaimauer auf ein Ponton. Dann dreht sich der Ponton und fährt durch die alte Brücke durch – was sich gerade noch haarscharf ausgeht, denn die neue Konstruktion passt mit einem Abstand von einem Meter hindurch. Dann dreht sich der Ponton wieder und abhängig vom Wasserstand fährt er die Stahlbrücke in die Position zwischen den Pylonen. Bei Ebbe sinkt der Ponton nach unten. Zusätzlich wird das Ponton mit Wasser geflutet, damit es weiter absinkt – und die Brücke exakt an den vorbestimmten „Anschlägen“ absetzt – auch dies mit einer Genauigkeit im Millimeterbereich. Danach zählt für Waagner-Biro jede Sekunde: Die Verkehrswege sind noch gesperrt und die Wiener haben exakt 24 Stunden Zeit, um sämtliche noch nicht fixierten Seile, Kabel, Stahlbau- und Betonteile zu verbinden. Auch die hydraulischen Einrichtungen werden in Betrieb genommen – und das Stahldeck schwebt zum ersten Mal langsam nach oben. Und weil dann die Gegengewichte noch nicht in Position sind, dauert allein dieses Hochziehen sechs Stunden. Ein Prozess mit vielen Zwischenschritten, wie Martin Lechner erklärt: „Über hundert Arbeiter stehen in diesem Moment bereit, um gewisse im Vorhinein geplante Handgriffe durchzuführen.“ Der Spezialist von Waagner-Biro vergleicht das mit einem sehr detaillierten Drehbuch für einen Film. Nur mit dem Unterschied, dass bei der Montage an diesem Tag im August ein zweiter Anlauf nicht vorgesehen ist. ///
Eckdaten Gesamtprojekt
Projekt: Neubau der Hubbrücke BotlekbrugTeilprojekt von: 37 km Erweiterung (PPP) der Autobahn A15Lage: Zwischen Maasvlakte und Vaanplein im Hafen von RotterdamAuftraggeber: Rijkswaterstaat, Infrastrukturbehörde der NiederlandeBaukonsortium: A-Lanes A15 bestehend aus Strabag, Ballast Nedam (NL), Strukon (NL), John Laing (GB)Bauzeit Gesamtprojekt: 2008 – 2015 laut RijkswaterstaatFinanzvolumen Gesamtprojekt: 1,5 Mrd. Euro laut Rijkswaterstaat
Eckdaten Botlekbrücke
Architekten: Quist Wintermans Architekten, RotterdamGeneralplanung: Vienna Consulting Engineers ZT, WienStahlbau: Eiffel Deutschland Stahltechnologie, HannoverMachinery & Electrics: Waagner-Biro Bridge Systems, WienTechnische Eckdaten: Hubbrücke mit zwei Spannweiten von jeweils 92 Metern und einer Verfahrhöhe von 31 Metern. Über die Brücke führen zwei Eisenbahngleise, eine 4-spurige Autobahn, ein Langsamfahrstreifen und ein Radweg. (SOLID 02 / 2014)