Die Seestadt Aspern ist eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Mit dem heurigen Frühjahr war über ein Viertel der 240 Hektar Gesamtfläche realisiert. 7.000 Menschen wohnen hier bereits, 2.000 haben in der Seestadt ihren Arbeitsplatz. Bis 2030 sollen hier 20.000 Menschen leben. Insgesamt soll der Bau des neuen Stadtteils in Wien-Donaustadt 20 Jahre dauern und kommt auf ein Gesamtinvestitionsvolumen von rund fünf Milliarden Euro. Verantwortlich für die Entwicklung der Seestadt ist 3420 Aspern Development. Im Interview mit SOLID spricht Vorstandsvorsitzender Gerhard Schuster über Ziele und Energie in der Seestadt, den Unterschied zu Großprojekten vergangener Jahrzehnte, und das Lernen aus Überdimensionierung.
Wie definieren Sie die wesentlichen Eckpfeiler dieses Stadtentwicklungsprojekts?
Gerhard Schuster: Hier stechen einige Ziele heraus. Erstens handelt es sich um eine durchkonzipierte Mischnutzung – Industrie, Produktion, Arbeit und Wohnen können mittlerweile sehr gut kombiniert werden, auch mit Bildungseinrichtungen und Freizeitangeboten. Der zweite Punkt ist eine klimaschonende und zukunftsweisende Mobilitätskonzeption, bei der am Ende der motorisierte Individualverkehr möglichst gering ist. Den Großteil übernehmen öffentliche Verkehrsmittel, primär U-Bahn und Schnellbahn. Innerhalb der Quartiere gibt es viele attraktive Angebote für den Fußgänger- und Fahrradverkehr, der auch immer Vorrang hat.
Ein weiterer Punkt ist ein stabiles Energieversorgungskonzept mit einer Basisversorgung durch Fernwärme, die in Wien sehr klimafreundlich ist. Dazu kommt noch ein hoher Anteil Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen, zum Beispiel aus dem Grundwasser mit Hilfe von Wärmepumpen oder aus Photovoltaik. Die Aspern Smart City Research forscht dazu ja in der Seestadt intensiv und arbeitet an diversen Bauprojekten direkt mit. Das wäre aber natürlich nichts ohne hohe Qualitätsstandards bei den Gebäuden und die Optimierung der lokalen Energieverteilung und -speicherung. Insgesamt ergibt das ein zukunftsweisendes Modell, das auch auf andere Stadtteile übertragen werden könnte.
Wo sind die größten Unterschiede zu früheren Stadterweiterungsprojekten erkennbar?
Gerhard Schuster: In den 60er, 70er, vielleicht sogar noch 80er-Jahren wurden vorrangig riesige und nicht sonderlich abwechslungsreiche Hofstrukturen und Zeilenstrukturen gebaut. Das ist hier nicht mehr der Fall. An der Seestadt sind viele Bauträger und Architekten beteiligt und das ergibt auch unterschiedliche architektonische Lösungen. Das sind dann eher kleinere Objekte, aber verdichtet und auch hochverdichtet. Dazwischen findet man Freizeitraum und viel Grünraum.
Viele Köche versalzen also nicht die Suppe?
Gerhard Schuster: Absolut nicht. So viel Vielfalt macht mehr Arbeit, aber das koordinierte Zusammenspiel mehrerer verschiedener Bauträger vermeidet Chaos und minimiert Risiken. Schließlich kann ein Beteiligter auch Fehler machen oder in Konkurs gehen – in so einem Fall wäre aber nicht gleich das ganze Projekt gefährdet, sondern nur ein kleiner Teil. Der Nachteil ist, wenn einer eine Bewilligung nicht bekommt oder aus einem anderen Grund hinterherhinkt, und dann ein Teil des Gesamtprojekts nicht nach Plan umgesetzt wird, leiden auch die anderen Teile rundherum. Es ist auch ein höherer organisatorischer Aufwand, die Einzelprojekte im Zeitplan zu halten, wenn sie aufeinander abgestimmt sind. Da gab es in der Vergangenheit auch das eine oder andere Problem. Viele Herausforderungen lassen sich aber durch gute Vorbereitung vermeiden.
„Nichts ohne hohe Qualitätsstandards bei den Gebäuden“
Und wahrscheinlich auch durch Erkenntnisse aus vergangenen Fehlern?
Gerhard Schuster: Natürlich. Wir entwickeln die Planungen ständig weiter. Zum Beispiel haben wir bei der Dimensionierung, der Gestaltung und Ausstattung von Freiräumen dazugelernt. Der eine oder andere Straßenraum war über- oder unterdimensioniert. Das können wir in den nächsten Etappen bereits ausgleichen. Das ist der Vorteil, wenn man einen Teil nach dem anderen baut. Das ist auch für die Robustheit des Gesamtprojektes wichtig – dass Änderungen in der nächsten Phase zugelassen werden können.
Auch bei den Zeitplänen gibt es immer wieder Optimierung. Wir haben drei großzügige Standorte für Schulen, wo anhand von Prognoserechnungen die benötigten Schulplätze abgedeckt werden. Anfangs war man aber nicht sicher, ob alle drei Standorte gebraucht werden. Nach aktuellen Berechnungen brauchen wir den dritten Schulcampus jetzt sogar früher als geplant. Auf so etwas muss man reagieren können. Die Verlässlichkeit von Prognosen ist auf jeden Fall von großer Bedeutung für die Bauträger, da man mit zumindest zwei Jahren Vorlaufzeit bei einem Gebäude planen muss, wie zum Beispiel das Erdgeschoß genau genutzt werden soll.
Was passiert, wenn die Realität nicht den Prognosen folgt?
Gerhard Schuster: Das hängt vom Ausmaß der Abweichungen ab. Im Vorschulbereich fehlen meistens weit weniger Plätze als ein weiterer Standort bieten würde, und für eine einzige Gruppe kann kein ganzer Kindergarten gebaut werden.
„Verschiedene Bauträger vermeiden Chaos“
Ist hier Nachverdichtung der bereits bestehenden Gebäude eine Lösung?
Gerhard Schuster: Das auch, aber ebenso Nachverdichtung in dem Sinne, dass Bauplätze freigelassen werden. Wir haben in der Seestadt beispielsweise derzeit die Pop-up-Dorms mit 80 Studentenheimplätzen. Das Konzept musste in einem Wettbewerb nachweisen, dass die Dorms in 20 Jahren mindestens zweimal übersiedeln können. Dieses Modulsystem soll in etwa zwei Jahren in den Norden übersiedeln und einen freien Platz zurücklassen. Wir könnten dort einen temporären Kindergarten aufstellen oder ein dauerhaftes Haus mit Kindergarten im Erdgeschoß. Mit drei oder vier solcher Beispiele innerhalb von 20 Jahren Entwicklung gewinnt das Projekt die Flexibilität, die es braucht.
Sehen Sie große Nachverdichtungsmöglichkeiten im Wohnbau in der Seestadt?
Gerhard Schuster: Nein, wir sind bereits optimal verdichtet. Das, was nicht verbaut ist, wird als Grünraum gebraucht. Hier wird es keine Verdichtungsmöglichkeiten geben.
Wie wirkt sich ein solches Projekt auf die Infrastrukturplanung aus, wenn nicht nur für über 20.000 Menschen Wohnraum, sondern auch für bis zu 20.000 Arbeitsplätze gebaut wird?
Gerhard Schuster: Das lässt sich planen, weil wir wissen, welche Gewohnheiten die Menschen nach ihrem Arbeitstag und außerhalb ihrer Wohnquartiere haben.
Aber Sie wissen im Grunde nicht, wie viele der 20.000 hier lebenden Menschen außerhalb der Seestadt arbeiten werden und wie viele der hier arbeitenden Menschen jeden Tag in die Seestadt „pendeln“ werden.
Gerhard Schuster: Eine Eins-zu-Eins-Deckung wird es sicher nicht geben. Es wird einen Anteil geben, der hier arbeitet und auch wohnt. Ob dieser Anteil am Ende der Entwicklung zehn, 20 oder 50 Prozent beträgt, wissen wir nicht. Aber auf diese Unsicherheiten muss das Angebot reagieren können. Nachdem wir über einen sehr langen Zeitraum Arbeits- und Wohnplätze schaffen, können wir Erfahrungen sammeln, wie hoch der Anteil der hier sowohl lebenden als auch arbeitenden Menschen ist. Auf das kann das wachsende Angebot zugeschnitten werden.
„Wir sind bereits optimal verdichtet“
Worum geht es in diesem Angebot vor allem?
Gerhard Schuster: Es geht vor allem um Einkaufsmöglichkeiten, Freizeitangebote und Sportangebote indoors und outdoors. Eine Unterdimensionierung dieser Angebote verärgert die Leute, eine Überdimensionierung ist tödlich für die angesiedelten Betriebe. Die trostlosesten Erlebnisse sind leerstehende Erdgeschoße mit verschlossenen Fenstern und verriegelten Türen. Um das von Anfang an zu vermeiden, haben wir die notwendigen Angebote nicht in einem Einkaufszentrum, Sportzentrum oder Gesundheitszentrum am Rand des Areals untergebracht, sondern eine Einkaufsstraßenstruktur entwickelt. Die erstreckt sich mit Gesundheitsangeboten, Dienstleistern, Einkaufsmöglichkeiten und Gastronomie entlang des ersten Wohnquartiers. Im Norden wächst die Straße langsam mit der Wohnentwicklung mit und wird am Ende die Haupteinkaufsstraße sein. Hier haben wir mit SES Spar European Shopping Centers einen Profi mit an Bord, der sonst Einkaufszentren konzipiert und managt. Daher wissen wir, wie die ideale Nachbarschaft eines Geschäfts für Hörgeräte oder kleinen Cafés beispielsweise sein muss.
Das minimiert auch das Konkursrisiko.
Gerhard Schuster: Genau – für uns als Betreiber wird das Risiko minimiert und auch für den Bauträger. Wir garantieren den Bauträgern einen langfristigen Mietvertrag mit uns und wir vermieten die Fläche weiter. Sollte ein Betrieb ausfallen, suchen wir den Nachmieter – die Bauträger erhalten aber so oder so die Miete von der Einkaufsstraßengesellschaft.
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