Baustoffe der Zukunft : Acryl - Leichtgewicht, aber hart im Nehmen
Es sind sage und schreibe 1300 Scheiben. Nur sechs von ihnen sind in ihrer Form identisch. Als Peter Cook das Kunsthaus Graz entwarf, schwebte ihm eine atmosphärische Hülle für das Gebäude vor. Glas konnte bei dieser Art der Fassadengestaltung nicht eingesetzt werden, die Unterkonstruktion hätte das Gewicht niemals getragen.
Um die Idee der Architekten umsetzen zu können, wurde zu Polymethylmethacrylat (PMMA) gegriffen. Bekannt ist das Material unter dem Namen Plexiglas. Es dauerte ein halbes Jahr, bis die blau eingefärbten, 20 Millimeter dicken Scheiben passgenau hergestellt waren. Peter Cook aber war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.Positive EigenschaftenDer Legende nach verdankt die Bauwelt das Material einem Zufall. 1928 experimentierte der deutsche Apotheker Otto Röhm mit Methylmethacrylsäure, die er zwischen zwei Gläser goss. Als er die polymerisierte Masse von den Scheiben trennte, hielt er eine transparente Kunststoffplatte in Händen. Von seiner Erfindung war er derart perplex, dass er das Produkt Plexiglas nannte.
Selbst wenn das heute ein Markenname ist, trat Polymethylmethacrylat unter dieser Bezeichnung seinen Siegeszug um die Welt an. „Es handelt sich dabei um transparente oder eingefärbte Platten in Dicken von zwei bis 50 Millimetern“, erklärt Gerhard Kuttenberger, Geschäftsführer von ThyssenKrupp Plastics Austria. „Es ist ein sehr bruchsicheres Material, das sich verformen lässt. Daher eröffnet es unglaubliche Einsatzmöglichkeiten, wo es auf Design und die Optik ankommt.“Schon bald wurde PMMA von den Architekten für sich entdeckt. Kein Wunder, schließlich weist das Material gute Zug-, Druck- und Biegefestigkeit auf. „Positiv ist auch die hohe Lichtdurchlässigkeit“, so Kuttenberger. „Plexiglas ist der neutralste und transparenteste Kunststoff: Es hat eine Lichtdurchlässigkeit von 92 Prozent, die sogar über Glas liegt.“
Dabei weist es aber ein deutlich geringeres Gewicht und eine hohe Tragfähigkeit auf. „Es kann durchaus auch für statisch unterstützende Zwecke eingesetzt werden“, betont Kuttenberger. „Ich kann 50 Millimeter dicke Platten auch exzellent beim Großaquarienbau einsetzen. Diese Tunnel bei Meeresaquarien wären ohne Plexiglas nicht möglich.“ Das beste Beispiel ist das Monterey Bay Aquarium in Kalifornien: Hier wurden alle Becken mit PMMA gebaut – Glas würde unter dem Druck von 1,2 Millionen Liter Wasser zerbersten. Selbst bei der höchsten Autobahnbrücke der Welt, dem Viaduc de Millau in Frankreich, kommt Plexiglas zum Einsatz. 7300 Schutzelemente wurden seitlich angebracht. Sie stabilisieren die Luftmassen auf der Fahrbahn und erlauben dank ihrer Transparenz, dass die Brückenkonstruktion so grazil bleibt, wie von den Architekten Norman Foster und Michel Virlogeux gewünscht.Vielfältiger EinsatzDie Festigkeit bei gleichzeitig geringem Gewicht ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Materials. „Daher kommt Plexiglas vor allem dort zum Einsatz, wo die Bruchsicherheit stimmen muss – also bei Überkopfverglasungen“, sagt Gerhard Kuttenberger. „Im privaten und industriellen Bereich sind das meist Lichtkuppeln oder Dachverglasungen.“
Da PMMA auch leicht weiterverarbeitet werden kann, findet es auch bei vorgehängten, transluzenten Fassaden immer mehr Beachtung. Es kann geschnitten, gebohrt und gefräst werden wie Holz. „Ich kann sämtliche spanabhebende Bearbeitungen durchführen“, weiß der ThyssenKrupp-Plastics-Austria-Chef. „Zusätzlich kann ich es einfach verkleben und die Kanten vollkommen glasklar aufpolieren. Das lässt natürlich sehr viele Einsatzmöglichkeiten zu.“ Je komplexer die Außenhüllen moderner Gebäude werden, desto lieber greifen die Architekten auf PMMA zurück. Das Material kann nämlich bei Temperaturen zwischen 130 und 170 °C gut thermogeformt werden. So sind etwa auch hinterleuchtete, organische Baukörper umsetzbar. „Wir planen gerade mit Partnern ein Fußballstadion in Nigeria“, erzählt Gerhard Kuttenberger. „Die nach oben hin gebogene Konstruktion besteht aus 6000 einzelnen Plexiglas-Dreiecken. Sie werden gefräst und haben zum Teil auch Ausschnitt drinnen, um homogenes, aber lebendiges Aussehen zu erreichen.“Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Selbst PMMA ist nicht unfehlbar. Das größte Manko des Materials ist die weiche Oberfläche. „Das heißt, die Kratzfestigekeit ist nicht so gegeben wie bei normalem Floatglas“, bestätigt auch Kuttenberger. „Durch die Flexibilität und die Bruchsicherheit ist die Oberfläche einfach weicher.“ Zwar können Schrammen auspoliert werden – je nach Tiefe mit einer speziellen Polierpaste oder wasserfestem Schleifpapier mit verschiedenen Körnungen –, das Einsatzgebiet wird dadurch aber eingeschränkt. „Bei einem Fenster würde ich Plexiglas nicht einsetzen“, so Kuttenberger. „Das wird zu oft gereinigt, was unweigerlich Kratzer nach sich ziehen würde.“ Auch aus Brandschutzgründen muss an manchen Orten auf das Material verzichtet werden. Zwar kann extrudiertes Acryl dauerhaft bei Temperaturen bis zu 70 °C eingesetzt werden, aber PMMA ist brennbar. Da es als „normal entflammbar“ gilt, wird es als Baustoffklasse B 2 eingestuft. „Die Ursprünge des Materials kommen ja alle aus dem Bereich Rohöl. Plexiglas ist also brennbar, hat aber eine geringe Rauchentwicklung und setzt keine giftigen Gase frei“, erklärt Gerhard Kuttenberger. „Aber man muss natürlich darauf achten, in welchem Umfeld man das Material einsetzt. Bei Fluchtwegen ist Plexiglas problematisch.“
Blick nach vorne
Wie bei jedem künstlich hergestellten Werkstoff wird natürlich ständig an einer Verbesserung geforscht. In Verbindung mit der LED-Technik ist noch einiges zu erwarten, was für neue Impulse in der Architektur sorgen könnte. Bei ThyssenKrupp Plastics Austria ist man etwa stolz auf ein lichtstreuendes Plexiglas, das ein besonderes Lichtleitverhalten aufweist. An der Kante der PMMA-Platten wird LED angebracht. Durch Brechung wird die Ausbreitungsrichtung des eintretenden Lichts geändert, sodass keinerlei Reflexion auf der Oberfläche stattfindet.„Baute man früher einen Lichtkasten, setzte man hinter der Plexiglas-Tafel Leuchtstoffröhren ein. Die Tiefe betrug also 15 bis 20 Zentimeter“, sagt Kuttenberger. „Jetzt muss nur mehr die Kante beleuchtet werden, das Licht fällt aber auf die komplette Fläche. Der Leuchtrahmen ist also nur mehr 20 Millimeter tief.“Auch dadurch könnten sich in der Architektur neue Möglichkeiten eröffnen. Intensiv wird auch daran gearbeitet, Nachteile von PMMA zu verbessern. Die Industrie versucht etwa, die Kratzfestigkeit zu erhöhen. In den Laboren wird – vor allem, weil Plexiglas immer stärker zur Gestaltung von Fassaden eingesetzt wird – an einer Beschichtung des Materials gearbeitet. Die gar nicht so kühne Vision sind Platten mit Anti-Graffiti- und Lotus-Effekt. Plexiglas könnte also in Zukunft selbstreinigend agieren.„Noch hat man bei den Oberflächenvergütungen nicht den Durchbruch erreicht, den man sich wünscht“, sagt Gerhard Luttenberger. „Tatsächlich ist es aber so, dass das Material nicht verbessert werden kann, nur seine Oberflächenbeschaffenheit.“