SOLID 05/2021 : Vorfertigung: „Müssten exponentiell wachsen“
Es ist eines der Zauberworte der Bauwirtschaft – vor allem, je mehr industrielle Anteile sie gegenüber den handwerklichen hat, und es ist eine fast schon mantrahaft wiederholte Forderung: Um effizienter und produktiver zu sein, braucht es mehr Vorfertigung. Wenn weniger Teile von Bauprojekten auf der Baustelle vor Ort gefertigt werden müssen, wird die Baustelle selber erstens kleiner, zweitens überschaubarer, die Bauzeit drittens kürzer und das Ganze viertens eben ökonomisch besser.
Gleichzeitig ist die Vorfertigungslandschaft und sind die Entwicklungen dort nur sehr schwer überschaubar – und der prozentuelle Anteil der Vorfertigung an der gesamten Bauproduktion liegt gefühlt im niedrigen einstelligen Bereich. Doch es soll mehr werden, das meinen fast alle.
Während Vorfertigung im Stahl- und Holzbau seit langem gang und gäbe ist und sich dort hauptsächlich die Methoden verfeinern und das wiederum fast ausschließlich durch Durchdigitalisierung der Prozesse und das Thema beim Ziegel noch in einer sehr frühen Phase steckt, sieht es beim Beton anders aus. Dort ist der Hebel am größten und dort gibt es auch die meisten einzelnen Entwicklungs- und Verbesserungsschritte.
Neu ist das Thema im Beton ja beileibe nicht, sagt Thomas Mühl, der seit Jänner 2021 als Geschäftsführer des VÖB (Verband Österreichischer Beton- und Fertigteilwerke) tätig ist. Den VÖB gibt es schon seit 1956. Wenn man heut schaut, sagt ein relativ tiefenentspannter Mühl, „hat das Thema nicht nur seine Berechtigung. Den Firmen geht es gut, die Geschäftsaussichten sind sehr gut und die Zukunft ist rosig.“
Die Kapazitäten sind derzeit mehr oder weniger ausgelastet, meint der VÖB-Geschäftsführer. „Wir wissen aber natürlich nicht, wie das in zwei Jahren sein wird, wenn die bestehenden Aufträge alle abgearbeitet sind. Wir werden erst sehen, welche Folgeaufträge kommen werden und in welchen Segmenten die Dinge passieren. Wir denken aus der Erfahrung der Finanzkrise heraus, dass auf der einen Seite der gewerbliche Bau zurückgehen wird, auf der anderen Seite aber der Hebel Wohnbau mit seinem sehr großen Bedarf da ist.“
Digitalisierung und der Trend zu Lean Construction spiele aber, so Mühl, der Vorfertigung mit Sicherheit in die Hände, die Branche sollte anteilsmäßig also auch im Fall von weniger Aufträgen profitieren.
Hälfte Infrastruktur, Hälfte Hochbau
Einer der großen Player in der Vorfertigung ist Kirchdorfer Concrete Solutions in der Nähe des niederösterreichischen Wiener Neustadt. „Der Infrastrukturbau ist natürlich optimal für Vorfertigung, weil die großen Errichter und Betreiber viele Bereiche und Produkte normieren“, sagt CEO Michael Wardian im Solid-Gespräch. Grundsätzlich ist Kirchdorfer aber sowohl im Tief- als im Hochbau in den vergangenen Jahren vor allem durch Zukäufe (wie etwa Katzenberger oder Kammel) sehr stark gewachsen. Im Tiefbau, so Wardian, führt der starke Normierungsgrad auf der einen Seite zu hohen Forschungsaufwendungen, um die Anforderungen zu erfüllen, die nötig sind – auf der anderen Seite aber auch zu präzisen Anweisungen, was genau vorzufertigen ist. „Während man beim Hochbau – bei allem, was über BIM geredet wird – noch immer relativ viel kurzfristig umplant, gibt es beispielsweise in der Bahnoberbauplanung einen genauen Plan von Experten, die mit Recht als echte Profis auf ihrem Gebiet gelten. Diese Spezialisten erstellen mit enormem Detail- und Überblickswissen eine Planung, die auch steht. Daran gibt es dann auch nichts mehr zu rütteln. Die Auftraggeber sind technisch extrem versiert. Die ÖBB oder die Asfinag etwa verfügen über eine Technikabteilung, wo man nur staunen kann – Österreich ist da auf dem Gebiet der Technik bereits sehr weit vorne.“
Der Vergleich macht Michael Wardian sicher, ist er doch auch Geschäftsführer der türkischen Kirchdorfer-Niederlassung und dort nach eigenen Worten mit „zum Teil kaum erfüllbaren oder wenig sinnvollen technischen Anforderungen“ konfrontiert.
Produktentwicklung und das Osteuropa-Problem
Ein großes Thema ist für Wardian in dieser Hinsicht die Produktentwicklung, die auf diesem hohen Niveau seiner Meinung nach eine direkte Beziehung zwischen Auftraggeber und Produzenten erfordere. „Ich halte die Vergabe von Aufträgen direkt an den Produzenten durch die ÖBB und die Asfinag für enorm wertvoll, weil genau das die Produktentwicklung weiterbringt. In vielen anderen Ländern wird der Auftrag immer nur über die Baufirmen weitervergeben. Daher gibt es dort auch kaum Produktentwicklungen, sondern ausschließlich eine Preisspirale nach unten und die Baufirmen haben einfach nicht die Aufgabe, die Weiterentwicklung voranzutreiben.“ Natürlich existiere aber auch in Österreich ein entsprechender Preisdruck.
Wenn aber der Produzent nicht nahe genug an den Endkunden käme, führe das zu einer Stagnation bei Produkten. „Bestenfalls geht etwas über große europäische Forschungsvorhaben, in die wir involviert sind. Aber das Problem bei diesen Vorhaben ist, dass sich am Ende des Tages niemand in die Karten schauen lassen und sein Wissen teilen will.“
Im Tiefbau und teilweise im Straßenbau, vor allem mit dem DeltaBloc, gäbe es auf europäischer Ebene keine Harmonisierung, sondern ganz starke nationalistische und protektionistische Tendenzen, um eigene Systeme voranzutreiben. „In Tschechien schaut ein Rückhaltesystem völlig anders aus als in Österreich, in Holland hat man das Step-Profil ewig verteidigt etc. Für uns als international tätige Firma heißt das, dass wir für jedes Land eigene Entwicklungen bedenken und durchlaufen mussten.“
Gefertigt wird bei Kirchdorfer Concrete Solutions primär in Österreich, aber es gibt auch Werke in Tschechien, Ungarn, Rumänien und der Türkei, keine allerdings in Westeuropa.
Wardian: „Ich bin allerdings nicht sicher, ob es nicht Anfang der Zweitausender-Jahre der bessere Weg gewesen wäre, auch mehr nach Westeuropa zu gehen – allein aufgrund der Rechtssicherheit und der Sprachbarrieren.“
Man müsse leider auch zur Kenntnis nehmen, dass etwa Rumänien 2030 wahrscheinlich nur mehr 18 Millionen Menschen haben wird – zum Zeitpunkt des EU-Beitritts waren es noch über 23 Millionen. „Und meistens gehen nur junge, gebildete Menschen weg, die sich woanders eine Zukunft aufbauen wollen – das ist aus europäischer Sicht eine regelrechte Katastrophe. Das gilt auch für Bulgarien oder Ungarn – es fehlt uns auf europäischer Ebene komplett, diese Länder nachzuziehen. Für Investitionen ist das fatal.“
Größere Dynamik im Hochbau
Am Standort Wöllersdorf hat man sich aber investitionsseitig in der letzten Zeit sehr stark dem Hochbau verschrieben. „Wir sehen, dass für die Fertigteilindustrie im Hochbau noch sehr viel zu tun ist. Dort ist die größere Dynamik – und die wird durch den Facharbeitermangel zusätzlich befeuert. Im Hochbau ist die Montage durch die gesamte Gebäudetechnik doch um einiges komplexer, das Versetzen eines Schachtes erfordert im Vergleich dazu nicht die gleiche Präzision.“
In der Halle 2 in Wöllersdorf sehe man etwa die Kombination von Tiefbau und Hochbau sehr gut. „Ursprünglich war es ein für den Tunnelbau von Stuttgart 21 eingesetztes Tübbingwerk in Deutschland, das wir nach Österreich gebracht und hier neu aufgestellt haben. Es wurden neue Systeme wie eine Zentralverschiebeanlage und eine Mattenschweißanlage eingebaut. Da gehört natürlich schon unternehmerischer Mut dazu, aber das ist gut gelungen. Nun sind wir auf dem neuesten Stand der Technik – mit Robotik, integrierter Produktion vom Vertriebsauftrag bis zur Auslieferung mit CAD und SAP über einen Variantenkonfigurator etc.“
Mit den hohen Investitionen in neue Technologie steht Kirchdorfer natürlich nicht allein da, sagt VÖB-Geschäftsführer Thomas Mühl. „Etliche unserer Mitglieder haben viel investiert und mittlerweile teilweise vollautomatisierte Produktionsstraßen, die gleichzeitig flexibel auf Kundenwünsche reagieren können. Wie in jeder anderen Industrie geht es bei uns auch um den vermehrten Einsatz von Robotik. Diese Themen muss man zu einer Steigerung der Produktivität einfach umsetzen. Ein weiterer Grund dafür ist natürlich der Facharbeitermangel.“
Mühl sieht darüber hinaus bei den aktuellen Themen vor allem im Nachhaltigkeitsbereich enorme Chancen für die Vorfertigung: „Ein Bereich, in den aus meiner Sicht viel Hirnschmalz wird hineinfließen müssen, ist sich zu überlegen, welchen Beitrag Fertigteile zum Thema Dekarbonatisierung leisten können. Da sind wir als Branche in vielen Gesprächen und Netzwerken drinnen. Es wird darum gehen, Bauteile geschickt und intelligent zu konstruieren, um weniger Material für die gleiche Leistung zu brauchen.“ Dafür ist man etwa mit Prof. Benjamin Kromoser von der Universität für Bodenkultur in Wien in Kontakt.
„Wir haben aber auch in Gesprächen mit der TU Graz festgestellt, dass das Potenzial von Fertigteilen derzeit noch nicht einmal annähernd ausgenutzt wird. Wenn man sich das Curriculum von Bauingenieuren oder Architekten an der TU Graz anschaut, kommt natürlich der Werkstoff Beton vor. Aber es gibt im gesamten Curriculum keinen Lehrgang, der sich nur auf Fertigteile bezieht. Das habe ich sehr erstaunlich gefunden. Wenn man diese Lücke schließen kann, müssten die Möglichkeiten für Fertigteile in einigen Jahren eigentlich exponentiell wachsen.“
In der Ausbildung liegt, so Mühl, auf jeden Fall Riesenpotenzial. „Wenn man das Wissen schon sehr früh und strukturiert in die jungen Menschen hinein bringt – was werden da in ein paar Jahren für Ideen herauskommen? Und das gilt nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die HTL, ja selbst für die Lehre. Da gibt es noch viel, was wir tun können.
Ein Beispiel für die Phantasie, die zu ganz neuen Produkten führen, ist etwa eine Kooperation zwischen der Vorarlberger Firma Tomaselli Bau und der Fertigteilfirma Jolo namens Concrete 3D, in der es im ersten Schritt um Halbfertig- und Fassadenteile geht (siehe Kasten)
Zukunft liegt in Qualität und Montage vor Ort
„Wir sollten auf jeden Fall versuchen, immer mehr Produkte in hoher Qualität in die Vorfertigung zu bringen“, meint Mühl, „weil wir da gegenüber dem Ortbeton auf der Baustelle verschiedene Vorteile haben. Es wird sicher in Zukunft immer mehr Angebot geben, Wertschöpfung in die Vorfertigung zu bringen. Das klingt zwar vielleicht auf den ersten Blick nicht sehr spannend, kann die Baubranche aber doch einigermaßen verändern. Auch auf der Baustelle wird es ja einen Facharbeitskräftemangel geben bzw. gibt es ihn jetzt schon. Als Fertigteilwerk habe ich es da sicher leichter, Qualität sicherzustellen, ohne dem Ortbeton seine Qualitäten absprechen zu wollen.“
Kirchdorfer Concrete Solutions-CEO Michael Wardian sieht auf jeden Fall einen Paradigmenwechsel mit einigen Konsequenzen kommen: „Unser Ansatz ist im Verhältnis zur Bauindustrie, die ja projektorientiert vorgeht, doch produktorientiert. Ich glaube, dass dem produktorientierten Ansatz in der Standardisierung die Zukunft gehört – auch in der Bauindustrie. Beispiele wie Katerra, Gropyus oder Cree zeigen das deutlich.“
In Zukunft werde immer stärker normiert und die Produkte auch immer hochwertiger und digital in jedem Detail (zum Beispiel durch RFID-Technologie) nachvollziehbar werden. Und es ginge noch weiter: „Meiner Meinung nach führt im Bereich Hochbau in Zukunft kein Weg daran vorbei, dem Kunden die Montage der eigenen Produkte gleich mitanbieten zu können. Im Tiefbau ist es bereits zum Teil schon möglich, aber im Hochbau ist die Herausforderung größer. Das Um und Auf insgesamt sind aber eine vernünftige und stehende Planung, der Drang zur Digitalisierung und die Integration in eine vernünftige Anlagentechnik.“
Kernbranche (Unternehmen in Österreich mit Schwerpunkt Betonfertigteile):
70 Mitgliedsbetriebe im Verband Österreichischer Beton- und Fertigteile (VÖB)
700 Millionen Euro Umsatz im Jahr
Mehr als 4.000 Mitarbeiter
Insgesamt rund 100 Betriebe in Österreich
Entwicklung Betonfertigteilbranche (C2361 nach ÖNACE, Quelle: Statistik Austria):
Umsatzsteigerung 2014 bis 2018: +24 Prozent
Abgesetzte Produktion 2014 bis 2018: +8 Prozent
Zahl der Beschäftigten 2014 bis 2018 +10 Prozent
Entwicklung von Produktgruppen im VÖB von 2015 bis 2020
Produktgruppe „Konstruktive Fertigteile“ (Quelle: eigene VÖB Erhebung)
Gesamtmarkt für das Produkt Doppelwand im Jahr: ca. 2 Mio. Quadratmeter
Produktionssteigerung bei Kategorie „Wand“ (pro Quadratmeter) 2015 bis 2020: +24 Prozent
Produktionssteigerung bei Kategorie „Decke“ (pro Quadratmeter): +8 Prozent
Produktgruppe Betonpflastersteine (Quelle: Statistik Austria)
Umsatzsteigerung 2015 bis 2020: +73 Prozent
Produktgruppe Rohre und Schächte (Quelle: Statistik Austria)
Umsatzsteigerung 2015-2020: +34 Prozent