Ein Beispiel aus der Praxis: Der Auftragnehmer AN reicht beim Auftraggeber AG eine bezifferte Mehrkostenforderung zur Prüfung ein. Es vergehen viele Wochen ohne inhaltliche Reaktion des AG. Der Bauvertrag, dem unter anderem die ÖNORM B 2110 zugrunde liegt, sieht vor, dass der AN nur mit dem AG abgestimmte Mehrkostenforderungen in die monatlichen Teilrechnungen aufnehmen darf. Mangels Reaktion des AG kommt es in dieser Zeit zu keiner Verrechnung der in der Mehrkostenforderung enthaltenen Beträge. Natürlich ist der AN mit der Situation unzufrieden. Was kann er tun?
Die ÖNORM B 2110 sieht in Punkt 7.3.3 vor: "Forderungen auf Grund von Leistungsabweichungen sind in prüffähiger Form der Höhe nach ehestens zur Prüfung vorzulegen; fehlende Unterlagen sind im Zuge dieser Prüfung ehestens anzufordern und vorzulegen; das nachvollziehbare Ergebnis der Prüfung ist dem Vertragspartner ehestens bekannt zu geben."
Der AG schuldet dem AN also ehestens die Übergabe eines nachvollziehbaren Prüfungsergebnisses. Sollte er ein solches Ergebnis wegen fehlender Unterlagen nicht ermitteln können, hätte er sich (ebenfalls ehestens) mit dem AN in Verbindung zu setzen und zusätzliche Unterlagen anzufordern. Tut er dies nicht, kann davon ausgegangen werden, dass alle erforderlichen Unterlagen vorhanden sind. Unter "ehestens" versteht man aus rechtlicher Sicht "frühestens" oder "ohne unnötigen Verzug". In unserem Falle wäre er mit seiner Prüfungsleistung – nach dem Verstreichen von mehreren Wochen ohne jedwede Reaktion – wohl "in Verzug".
Was tun bei zahnlosen Sollensanordnungen?
In genau solchen Fällen fragen viele Mandanten nach einer Sanktion. Nun: Die ÖNORM selbst sieht keine Rechtsfolge für die unterlassene Bekanntgabe eines nachvollziehbaren Prüfungsergebnisses vor. Und das gilt nicht nur für dieses konkrete Beispiel in Zusammenhang mit der Prüfung einer Mehrkostenforderung. Die ÖNORM enthält in Ihrer aktuellen Fassung März 2013 mehr als 25 derartige Verpflichtungen, denen keine unmittelbaren Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung gegenüberstehen. Wie man nun mit solchen zahnlosen Sollensanordnungen umgehen kann, hängt davon ab, welche Art von Leistungspflichten davon betroffen sind.
Die Rechtswissenschaft unterscheidet nämlich bei den vertraglichen Leistungspflichten zwischen Haupt- und Nebenleistungspflichten. Zudem gibt es noch sogenannte Obliegenheiten. Um welche Art von Verpflichtung es sich in concreto handelt, ist zumeist im Wege der Vertragsauslegung zu ermitteln. Dies ist stets eine Einzelfallbetrachtung:
Hauptleistungspflichten: HLP sind für die Parteien von wesentlicher Bedeutung und charakterisieren zugleich den Vertragstyp als zB Bauwerkvertrag. HLP sind als sogenannte Primärpflichten auch selbstständig durchsetzbar, also zB im Wege einer Ersatzvornahme einklagbar. Die klassischen HLP beim Werkvertrag wären auf Seiten des AN die Herstellung des vereinbarten Werkerfolgs ("Bauen") und auf Seiten des AG die fristgerechte Vergütung des vereinbarten Werklohns ("Zahlen"). Die Prüfung einer MKF und die Bekanntgabe eines Ergebnisses ist wohl eher nicht als HLP zu interpretieren, auch wenn der AN gemäß Vertrag nur "abgestimmte Beträge" in die Teilrechnungen aufnehmen darf. Darüber könnte er sich einfach durch Legung einer zweiten Teilrechnung hinwegsetzen und hätte so jedenfalls die Verzugszinsen für den berechtigen und fällig werdenden Teil gesichert.
Nebenleistungspflichten: NLP können explizit vereinbart werden, sich aus Auslegung des Vertrags oder aus dem Gesetz ergeben. Hat ein Gläubiger an einer NLP ein selbstständiges, von dem an der Hauptleistung trennbares Interesse, so handelt es sich um eine selbstständige NLP. Unselbständige NLP haben hingegen nur dienende Funktion im Hinblick auf die Vorbereitung und Abwicklung der charakteristischen HLP. Für die selbstständigen NLP gelten zB auch die Regeln über den Verzug (nicht so für die unselbstständigen NLP). Die Prüfung einer MKF und die eheste Bekanntgabe eines Ergebnisses kann durchaus als selbstständige NLP interpretiert werden. Die MKF hat nämlich in der Regel tatsächliche Aufwendungen des AN zum Gegenstand, von deren Zahlung die Bonität und die Wettbewerbsfähigkeit des AN abhängig ist. Zudem ist der AN in der Regel bei Meinungsverschiedenheiten über die Höhe der Vergütung nicht berechtigt, seine Leistung einzustellen.
Obliegenheiten: Dabei handelt es ich um Rechtspflichten "minderer Art" die nicht selbstständig eingeklagt werden können. Bei Verletzung einer Obliegenheit entsteht mangels Rechtswidrigkeit kein Schadenersatzanspruch. Eine klassische Obliegenheitsverletzung wäre zB Mitverschulden des AG infolge verzögerter Entscheidung über eine notwendige Leistungsänderung.
Empfehlung: Der jeweils betroffene Vertragspartner sollte sich daher erkundigen, um welche Art von Vertragspflicht es sich in concreto handelt und sich in Abhängigkeit davon durchaus überlegen, den säumigen Teil davon in Kenntnis zu setzen, dass die andauernde Unterlassung einer allfälligen selbstständigen NLP durchaus zu Verzugsfolgen mit sich bringen kann. Schadenersatzansprüche sind in solchen Fällen also durchaus argumentierbar.
Erschienen in SOLID 4/2015