SOLID 02/2020 : Urbane Planspiele
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Als älteste Stadt der Welt gilt gemeinhin Jericho. Am anderen Ende der chronologischen Skala befindet sich die neue Hauptstadt Indonesiens, die gerade im Dschungel von Borneo aus dem Boden gestampft wird. Schon in drei Jahren sollen Regierung und Parlament des 264 Millionen Einwohner zählenden Landes dorthin übersiedeln. Wichtigste Gründe für die Großaktion sind das Verkehrschaos in Jakarta und die Sorge, dass die Metropole irgendwann im Meer versinkt. Vor diesem Hintergrund darf man hoffen, dass die neue, noch namenlose Hauptstadt gut geplant ist.
Ob alt oder neu – Städte durchleben laut dem deutschen Zukunftsinstitut aktuell ihren endgültigen Siegeszug. 1950 wohnten weltweit knapp 30 Prozent der Bevölkerung in Städten. Deren Anteil, der sogenannte Urbanisierungsgrad, steigt kontinuierlich an, wobei inzwischen mehr Menschen in städtischen als in ländlichen Räumen leben. Was passiert, wenn sich immer mehr Erdenbürger auf begrenztem Platz befinden, ist klar. Der Wohnraum wird knapp. Denn die Nachfrage regelt das Angebot. Vielerorts klettern dementsprechend die Miet- und Immobilienpreise massiv.
Schleichende Evolutionen
Was ist diesbezüglich bei der Entwicklung sowie beim Bau zu berücksichtigen? Christoph Stoik, Sozialraumexperte der FH Campus Wien, antwortet: „Besonders bei wachsenden Regionen und Städten besteht die Herausforderung, Wohnraum so zu schaffen, dass dieser komplexen Ansprüchen gerecht wird. Ökologische Anforderungen müssen ebenso wie soziale, gesundheitliche, architektonische, technische und ökonomische erfüllt werden. Die Stadtentwicklung kann nicht nur aus einer planerischen Perspektive betrachtet werden, sondern muss Wissen über das soziale Leben von Menschen heranziehen, um Prozesse der urbanen Veränderung und Nachverdichtungen gut begleiten zu können.“ Susan Kraupp, Leiterin des Büros SK Stadtplanung & Architektur in Wien, schlägt ähnliche Töne an. Sie fordert beispielsweise eine Ausdifferenzierung des Angebots. Oft vernachlässigte Nischen besonderer Bedürfnisse – wie integratives Wohnen für Asylberechtigte – müssen optimiert abgedeckt werden (siehe Interview). Das Zukunftsinstitut wiederum ortet einen aus der Not geborenen Trend zu Mikrowohnungen.
Weiters thematisiert das Zukunftsinstitut die „Evolution der urbanen Mobilität“. Während die Förderung des Langsamverkehrs – also Strecken zu Fuß oder per (E-)Bike zurückzulegen – ein effektiver Ansatz ist, um die Nachhaltigkeit und Lebensqualität in einer Stadt zu verbessern, werden gleichzeitig große Hoffnungen in neue Mobilitätstechnologien gesetzt. Autonomes Fahren wird allerdings im hochkomplexen City-Traffic weniger eine Rolle spielen als die Anbindung suburbaner Regionen an die Metropolen. Den Schlüssel zur urbanen Mobilität der Zukunft bildet die barrierefreie Verknüpfung von privaten, geteilten sowie öffentlichen Verkehrsmitteln. Dazu müssen Infrastrukturen ausgebaut, jedoch Städte nicht grundsätzlich umgemodelt werden. Der Wandel der urbanen Mobilität ist eher eine schleichende Evolution, die das Verhalten der Städter und die gebaute Umwelt umwälzen wird.
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Öffentliche Räume ohne Konsumzwang erhalten
Christoph Stoik benennt ein weiteres Problemfeld: „Es wird von entscheidender Bedeutung sein, dass bei städtischer Verdichtung genügend öffentlicher Raum ohne Konsumzwang erhalten bleibt. Dieser spielt eine wichtige Rolle im urbanen Leben. Hier können sich Menschen begegnen, auch wenn sie sich in unterschiedlichen Lebenswelten befinden. Sie treten quasi aus ihren ‚Blasen‘ heraus, ohne miteinander kommunizieren zu müssen.“
Summa summarum kollidiert der Megatrend Urbanisierung in vieler Hinsicht mit dem Wunsch der Menschheit nach Lebensqualität. Luft-/Lärmverschmutzung, Verkehrskollapse, knapper und teurer Wohnraum sowie immense Umweltbelastungen durch Branchen, die die Ballungsräume am Funktionieren halten, sind die großen Herausforderungen der kommenden Jahre. Kompetente und weitsichtige Stadtplanung ist unerlässlicher denn je.
SOLID: Wie entwickelte sich die Stadtplanung in Wien?
SUSAN KRAUPP: 1835 wurde ein Stadtbauamt gegründet. Die grundlegendsten, heute noch als Basis der Stadtanlage dienenden Planungsprojekte war die erste Erweiterung Wiens, die 1857 verkündet und 1858 mit der Ausschreibung eines internationalen Wettbewerbes begonnen wurde. Diese beinhaltete den Abriss der Stadtmauer, die Planung und Ausführung der Ringstraße und Kaianlage und die Eingemeindung der Vorstädte von Wien. Diese erste Erweiterung zog sich bis an das Ende der 1880er Jahre. Erst 1890 kam es zur Eingemeindung der Vororte. Diese bildete 1893 den Anlass für die Ausschreibung eines weiteren öffentlichen Wettbewerbes zur zweiten Stadterweiterung – und darin die Erstellung eines Generalregulierungsplanes für Wien, strukturell gesehen annähernd in der Ausdehnung, wie wir sie heute noch vorfinden.
SOLID: Was sind die Spezifika gegenwärtigen Stadtplanung?
KRAUPP: Wien besitzt nach wie vor eine in ihrer Größe und Organisation beeindruckende Stadtverwaltung, in der die Planung strukturell einen unverändert hohen Stellenwert aufweist. Das Wiener Wohnbaumodell wirkt unschlagbar, was den geförderten Wohnbau und damit leistbares Wohnen betrifft. Doch sei es durch die zunehmend neoliberalen Tendenzen der Politik, sei es das zunehmende Unverständnis für die öffentliche Bedeutung einer vorausdenkenden, gestalterisch bewussten Planung – es kommt es zu einer Verschiebung der Kontrolle, von der Stadtverwaltung und einer technisch wie ästhetisch ausgebildeten Planungsexpertise weg, hin zu Bauträgern und Investoren. Die Stadtplanung und darin vor allem der städtebauliche Maßstab scheinen einen immer geringeren Wert in der Stadtentwicklung einzunehmen. Die Entwicklungsflächen werden mehr zufällig und patchworkartig in Auftrag gegeben, anstatt mit – sowohl zeitlich als auch räumlich – weitsichtigen Plänen und auf differenzierte Szenarien begründet. Auf Österreich als Ganzes bezogen machen die lokalen Unterschiede in der Gesetzgebung die Durchsetzung von bundesweit greifenden Verbesserungen und Reformen schwierig. Die kleineren Gemeinden mit geringeren Kapazitäten und Budgets sind mit den Aufgaben oft überfordert. Ebenso mit den Chancen, die eine vorausdenkende Planung mit sich bringt.
SOLID: Was erhoffen Sie sich von der Zukunft?
KRAUPP: Mehr Bewusstseinsbildung für die Bedeutung und Wertigkeit einer starken Stadt- und Gemeindeplanung sowie darin eigebettet für qualitativ hochwertigen Städtebau und Baukultur gegenüber Politik, Verwaltung und Bevölkerung. Stärkung der unabhängigen, weitsichtigen Planung in der Stadt- und Gemeindeverwaltung. Verstärkte Wiedereinführung städtebaulicher- und Architekturwettbewerbe. Bundesweite Angleichung der auf die Gesetzgebung aufgebauten, vor allem formellen Planungsinstrumente und Bauordnungen. Studium und Unterscheidung der Herausforderungen und von daher Strategien für Städte auf der einen, kleinerer Gemeinden auf der anderen Seite. Einrichtung einer bundesweiten Städtebauförderung. Stärkung des Städtebaus in der Sektion Architektur der Ziviltechnikerkammer.
SOLID: Welche Wohnkonzepte sind notwendig?
KRAUPP: Das Wiener Wohnbaumodell mit den Bauträgerwettbewerben für den geförderten Wohnbau liefert eine hervorragende Basis, kann aber natürlich nicht alle Bedürfnisse abdecken. Zusätzliche Architektenwettbewerbe, auch im geförderten Wohnbau, für die Optimierung baukultureller Qualität sind anzustreben. Es bedarf neuer Modelle und Anreize dafür, dass auch der freifinanzierte Markt soziale, kulturelle sowie ästhetisch relevante Themen bearbeitet. Darüber hinaus ist eine Ausdifferenzierung des Angebots anzustreben, das oft vernachlässigte Nischen besonderer Bedürfnisse – Modelle für unabhängiges Wohnen im Alter, integratives Wohnen für Asylberechtigte oder Wohnen für Personen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen etc. - optimiert abdecken kann.