SOLID 12/2014 - 01/2015 : Tunnelbau für Stuttgart21 - Aufgaben für Könner
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Eine 110 Meter lange Maschine sieht man nicht jeden Tag. Entsprechend groß war diesen November der Andrang am „Tag der offenen Baustelle“ im schwäbischen Aichelberg. Hunderte Besucher kamen zum westlichen Ende des künftigen Boßlertunnels, schauten sich die Taufe der Tunnelvortriebsmaschine an und ließen sich durch das Ungetüm, Typ Herrenknecht S-738, herumführen. Projektsprecher Wolfgang Dietrich schwärmte davon, wie präzise die Arbeit an dieser Maschine sein müsse. Und meinte dann: „Deshalb hoffe ich, dass mit jedem Tunnelmeter auch das Vertrauen wächst.“ Tatsächlich dürfte das große Interesse der Besucher nicht nur technischer Natur gewesen sein.
Der Boßlertunnel gehört zu Stuttgart21 und damit zum aktuell größten Bauprojekt Europas – und dieses Bauprojekt war lange auch das am stärksten umkämpfte. Im Mittelpunkt von S21 steht der Umbau des oberirdischen Stuttgarter Hauptbahnhofs, eines Kopfbahnhofs, zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof. Dafür sollte das Bahnhofsgebäude und der Schloßpark im Stadtzentrum weichen. Gegen das Vorhaben gingen ganz gewöhnliche Bürger zu tausenden auf die Straße, die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Bis die Situation im Herbst 2010 eskalierte - mehrere Protestteilnehmer wurden schwer verletzt. Es folgte ein Schlichtungsverfahren und ein Volksentscheid, bei dem die Mehrheit der Abstimmenden einen Neubau befürwortet hat. Danach gingen die Proteste weiter, aber in schwächerer Form. Und die ersten Großbaustellen begannen mit der Arbeit.Hier ein SOLID-Bericht mit den zentralen Details zum bautechnisch sehr schwierigen Tunnelbauprojekt PTA 2.2 - und den Baufirmen aus Österreich, die ihn übernehmen.Umbau in Stuttgart, Neubau nach Ulm - und der bauliche Extremfall PTA 2.2
Das unter dem Schlagwort Stuttgart21 bekannte Projekt besteht eigentlich aus zwei Teilen: Dem Umbau des Bahnknotens Stuttgart (S21) und dem Neubau der Strecke Wendlingen-Ulm (NBS). Nicht nur die Ausmaße des Milliardenvorhabens sind außergewöhnlich, sondern auch die bautechnischen Schwierigkeiten: Von den insgesamt rund 120 Kilometern neu zu errichtender Strecke machen Tunnel rund die Hälfte aus. Einen Extremfall darin bildet der Planfeststellungsabschnitt (PTA) 2.2 Albaufstieg auf der Strecke nach Ulm – die 15 Kilometer Länge bestehen aus 13,7 Kilometern Tunnel und einer 485 Meter langen, 85 Meter hohen Brücke. Der Albaufstieg sei „das ingenieurtechnische Herzstück“ der gesamten Strecke Wendlingen-Ulm, so der Vorstandschef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube. Und die Auftragsvergabe für den Bau der beiden Tunnel auf diesem Baulos im Oktober 2012 wurde ein Triumph für österreichische Baufirmen. Den Auftrag für den Bau des Steinbühltunnels und des Boßlertunnels gewann die Arge Tunnel Albaufstieg (ATA) – eine praktisch rein österreichische Formation aus den Baufirmen Porr Deutschland, Hinteregger, Östu-Stettin und Swietelsky. Deutsche Zeitungen müssen den Auftragsgewinn erklärenDer Gewinn eines besonderen Tunnelbauauftrags ist für heimische Branchenbeobachter eigentlich nichts ungewöhnliches – für die breite Öffentlichkeit in Deutschland schon. Die angesehene „Stuttgarter Zeitung“ lieferte damals ihren Lesern die Erklärung: „Der Tunnelbau war über Jahrzehnte vor allem in der Hand österreichischer Spezialisten.“Das Rennen um das Projekt war hart: In einer europaweiten Ausschreibung haben sieben Bieter Angebote gelegt. Berichten zufolge konnte die Bahn den Preis etwas drücken – von den ursprünglich kalkulierten 800 Millionen Euro wurde der Auftrag um 635 Millionen vergeben. Dass ihn Österreicher gewinnen, war trotzdem keine allzu große Überraschung. Heimische Firmen sind sehr umfangreich in das Geschehen involviert, was nicht zuletzt der Fall der Alpine zeigt. Als der Salzburger Konzern pleite ging, war auch in Stuttgart die Sorge um mehrere Großprojekte groß, unter anderem beim 290 Millionen Euro schweren Bau des Tunnels Bad Cannstatt. Aufträge über eine Milliarde allein für die Porr Das Engagement heimischer Baufirmen bei der Errichtung des riesigen Bauvorhabens sieht man bei keinem Konzern so deutlich wie bei der Porr. Insgesamt habe das Unternehmen Aufträge im Umfang von knapp 1,3 Milliarden Euro erhalten, so Konzernchef Karl-Heinz Strauss: „Die Aufträge im Rahmen von Stuttgart-Ulm zählen für uns gemeinsam mit dem U-Bahnbau in Katar zu den derzeit größten Projekten.“ Der Konzern baut derzeit unter anderem den neun Kilometer langen Fildertunnel quer durch Stuttgart und den Steinbühltunnel durch die Schwäbische Alb. Auch beim Boßlertunnel steht die Tunnelvortriebmaschine bereit, im Jänner 2015 soll der Vortrieb starten. Dieser Tunnel gilt mit seinen knapp neun Kilometern als das längste und schwierigste Tunnelbauwerk auf der Strecke nach Ulm. Da ist zum einen das Gelände: Der Grund tief unter der Schwäbischen Alb ist über weite Strecken weich und verkarstet, was die Errichtung von Tunneln nicht gerade erleichtert. Dazu kommen hohe Mengen an Grundwasser. Deshalb wurden vor dem östlichen Ende des benachbarten Steinbühltunnels riesige Sickerbecken angelegt. Zum anderen ein ungewöhnlich hohes Gefälle erforderlich: Im Boßlertunnel wird der größte Teil der Steigung auf der Neubaustrecke überwunden. Entsprechend beträgt die Längsneigung 17 bis 25 ‰. Gebohrte Strecken sind viel länger Schließlich verbirgt sich hinter der Angabe von neun Kilometern Länge eine weit höhere Anzahl an der zu bohrenden Strecke. Die zwei Gleise der Verbindung bekommen aus Sicherheitsgründen jeweils eine eigene Röhre. Alle 500 Meter müssen zwischen den beiden Röhren Verbindungsbauwerke errichtet werden, über die später bequem Rettungsfahrzeuge fahren können. Und wegen des kleinen Durchmessers muss die Arge schließlich mit speziellen Einkleidungen an den Tunnelportalen gegen den „Sonic Boom“, den Tunnelknalleffekt, vorsorgen. Die bautechnische Lösung sieht so aus: Ziemlich genau in der Mitte der Strecke bekommt der Boßlertunnel einen sogenannten Zwischenangriff. Das Ziel: Von hier aus kann der Bau des langen Bauwerks von der Mitte aus in zwei Richtungen gleichzeitig vorangetrieben werden. Die Arbeiten daür sind schon seit November 2013 im Gang. Inzwischen haben die Mineure der Arge den 948 Meter langen Zugangsstollen bereits erstellt, und zwar im Sprengvortrieb in Spritzbetonbauweise. Jetzt im Dezember sind die Mineure im konventionellen Spritzbetonvortrieb in beide Richtungen, nach Ulm und nach Stuttgart, schon 600 Meter im Berg. „Ab Januar findet der Tunnelvortrieb also an insgesamt sechs Stellen statt“, erklärt ein Sprecher des Großprojekts. Denn gleichzeitig startet dann die Tunnelvortriebsmaschine vom westlichen Portal in Aichelberg in Richtung Ulm. Die fahrende Fabrik namens Herrenknecht S-738 In diesen Tagen wird die fahrende Fabrik namens Herrenknecht S-738 in den Tunnel geschoben, der erste kurze Tunnelabschnitt dafür ist schon erstellt. Dann bohrt sich vorne das schwere Meisselrad in den Berg, während von hinten Tübbinge geliefert werden. Sieben Tübbinge bilden zusammen einen 103 Tonnen schweren einen Ring, der später dem Druck des gesamten Berges standhalten muss. Auf das Gewicht des fertigen Rings stützt sich auch die Tunnelbohrmaschine. Die Tübbinge kommen von einem weiteren österreichischen Baukonsortium, der Arge PTS Boßlertunnel aus den Firmen Maba und Porr. Beim Fertigbetonspezialisten heißt es dazu, jeder einzelne Tübbing sei weit mehr als ein großes Stück Beton: „Damit der gesamte Ring sitzt und seine Funktion erfüllt, erfordern die einzelnen Elemente Fertigungsgenauigkeiten im Zehntelmillimeter-Bereich.“ Genaue Planung wegen der Tübbinge Die Auskleidung des Tunnels benötigt nach Angaben von Maba 50.000 Tübbinge – was wegen des Materialnachschubs genaue logistische Planung erfordert. Die Arge-Partner haben sich deshalb für eine mobile Fertigungsfabrik direkt vor Ort entschieden, welche die Tübbinge „just-in-time“ produziert und anliefert. Die Produktion müsse „genauestens auf den Vortrieb im Tunnel abgestimmt sein“, Roland Steindl, technischer Geschäftsführer der Arge PTS Boßlertunnel. Wenn der Boßlertunnel fertig ist, mündet er am östlichen Ende direkt in die Filstalbrücke – und dann taucht der Zug wieder in einen Tunnel ein, den Steinbühltunnel. Bei diesem Bauwerk ist die Arbeit der Arge aus Porr, Hinteregger, Östu-Stettin und Swietelsky schon sehr viel weiter. „Seit Juni 2013 haben die Mineure Tag und Nacht am Steinbühltunnel gearbeitet“, so Projektsprecher Wolfgang Dietrich. 114 Tonnen Sprengstoff und 113.085 Zünder Vor wenigen Wochen gab es Grund zu feiern: Rund 55 Prozent von den insgesamt 4.224 Meter langen Vortriebsarbeiten waren Ende September erledigt. Auch hier war die hohe Kunst des Tunnelbaus gefragt: Bis dato haben die Mineure 114 Tonnen Sprengstoff und 113.085 Zünder in die Luft gejagt und danach mit 32.000 Kubikmetern Spritzbeton und 4.300 Tonnen Baustahl den Tunnelhohlraum gesichert. Wenn das Baulos Albaufstieg PFA 2.2 eines Tages fertig ist, wird der Fahrgast im Zug nicht allzu viel von den zwei bautechnisch schwierigsten Tunneln auf dieser Strecke merken. Ein Hochgeschwindigkeitszug braucht dann kaum mehr als zwei Minuten, um einen Tunnel zu queren. (SOLID 12/2014 - 01/2015)_______________________________
Stuttgart ist nicht Wien: Der Kampf um Stuttgart21 Der massive und erbitterte Widerstand der sonst so behäbigen Schwaben überraschte alle und vermutlich auch sie selbst. Die Gegner kämpften verbissen gegen den Abriss des Bahnhofsgebäudes und gegen die weit reichenden Eingriffe in das Stadtbild. Naturschützer fürchten um die vielen Mineralwasserquellen – Stuttgart verfügt nach Budapest über das zweitgrößte Mineralwasservorkommen Europas. Die Quellen stehen unter Druck und sprudeln nach oben, das Grundwasser dient als eine Art Gegengewicht. Jetzt wird es großflächig abgepumpt: Seit August wird ein 900 Meter langer und 20 Meter tiefer „Trog“ für den künftigen Bahnhof errichtet. In der Kritik stehen auch die Milliardenkosten für ein Projekt, an dessen Sinn selbst namhafte Verkehrsexperten zweifeln. So wird sich die Fahrt zwischen Stuttgart und Ulm von 54 auf 31 Minuten verkürzen. Das sind also 23 Minuten, denen Kosten von derzeit 9,8 Milliarden Euro gegenüberstehen. Dabei zeigen Statistiken, dass die Strecke München-Stuttgart weit weniger überlastet ist als beispielsweise München-Frankfurt-Köln. Die Befürworter argumentieren mit einem zukünftigen Hochgeschwindigkeitsnetz, das einst von Paris über Stuttgart, München, Salzburg und Wien bis nach Budapest reichen würde. (SOLID 12/2014 - 01/2015)_____________________ECKDATEN ZUM GESAMTPROJEKT Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm besteht aus zwei Großprojekten: der Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart (S21) und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm (NBS). Beide sollen 2021 fertig werden. S21: 18 Brücken, vier Bahnhöfe und eine Gesamtstreckenlänge von 57 km, davon 16 Tunnel und Durchlässe mit einer Länge von 33 km. Kosten derzeit: 6,526 Milliarden Euro. NBS: Besteht aus sieben Planfeststellungsabschnitten und hat eine Gesamtstreckenlänge von 59,6 km, davon 30,4 km Tunnelstrecke. Ferner 17 Eisenbahnüberführungen und 20 Straßenbrücken. Kosten derzeit 3,26 Milliarden Euro. ___________________________ECKDATEN ZUM Baulos Albaufstieg Planfeststellungsabschnitt PFA 2.2 AlbaufstiegTeil der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm (NBS)Länge: 14,6 km, davon 13,5 km TunnelstreckeBauwerke: Boßlertunnel (8.806 m), Steinbühltunnel (4.847 m), Filstalbrücke (485 m)Auftragsvergabe Tunnelbau: Oktober 2012Finanzvolumen Tunnelbau: 635 Millionen EuroBaustart: Jänner 2013 Rohbau: bis Ende 2018Inbetriebnahme geplant: Dezember 2020 Auftragnehmer: Arge Tunnel Albaufstieg (ATA) Bestehend aus: Porr Deutschland Infrastruktur Tunnelbau; G. Hinteregger & Söhne Baugesellschaft; Östu-Stettin Hoch- und Tiefbau; Swietelsky Baugesellschaft. (SOLID 12/2014 - 01/2015)