Solid 03/2015 : Smart-Grid-Beispiel in Salzburg: Wohnbau unter Strom
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Auf den ersten Blick ist nichts ungewöhnlich an den Wohnhäusern der „Rosa Zukunft“ im Salzburger Stadtteil Taxham. Wie bei heutigen Neubauten üblich, drängen sich die sechs Baukörper dicht an dicht auf dem knapp 15.000 Quadratmeter großen Grundstück. Doch der Andrang auf die 129 Wohneinheiten sei enorm gewesen, sagt Roland Wernik, Geschäftsführer der für die Errichtung zuständigen Salzburg Wohnbau: „Bei den Anträgen waren alle Wohnungen mehrfach überzeichnet.“Und nicht nur bei den Salzburgern ist das Interesse an der Wohnanlage enorm - und das aus gutem Grund.Auch eine Reihe von großen Unternehmen und Forschungsstellen, darunter etwaLandesenergieversorger Salzburg AG, das Austrian Institute of Technology, TU Wien und Siemens Österreich waren intensiv an der Konzeption und der Errichtung beteiligt. Allein das ist bereits alles andere als gewöhnlich. Und auch um die Zukunft geht es bei „Rosa Zukunft“ weitaus mehr als bei so manch einem Wohnbunker, der nur zu Renditezwecken errichtet wird. Dieses Salzburger Projekt macht sichtbar, wie die Energiewende inzwischen auch das Bauen verändert – und wie Wohnbau im Jahr 2020 wahrscheinlich sein wird.
Direkt auf das Netz reagieren können Die „Rosa Zukunft“ ist die erste Smart Grid-fähige Wohnanlage Österreichs. Was heißt das? Im Kern geht es erstens darum, über ein komplexes System Energie vor Ort zu erzeugen und zu speichern, um so die Abhängigkeit von externen Energiequellen zu verringern. Doch das Konzept reicht viel weiter als bei einer einfachen Ansammlung von Passivhäusern mit Photovoltaikanlage auf dem Dach. Denn zweitens soll dieser Wohnkomplex direkt und sehr flexibel auf die Schwankungen in den Stromnetzen reagieren, die der immer höhere Anteil erneuerbarer Energien mit sich bringt. Nötig dafür sind nicht nur neue, intelligente Netze, die Smart Grids, sondern auch Flexibilität bei den Verbrauchern. Schließlich lautet drittens das Versprechen der Bauträger, dass auch der Wohnkomfort in keiner Weise darunter leiden soll. Jetzt, im März 2015, legen die Verantwortlichen erstmals die Zahlen zu den ersten Monaten im Betrieb vor. Sie kommen von den Messungen und Berechnungen der beteiligten Unternehmen. Bereits vorab zieht Roland Wernik von der Salzburg AG gegenüber SOLID eine positive Bilanz: „Unsere Umfragen unter den Bewohnern ergeben eine überdurchschnittlich hohe Wohnzufriedenheit. Zugleich wird der Betrieb der Anlage trotz unterschiedlicher Nutzerprofile den ökologischen Kriterien gerecht.“ Auch die Einbindung ins regionale Stromnetz sei „zu 100 Prozent“ geglückt, so Wernik. Lediglich die früher in den Medien oft geäußerte Behauptung, dass eine solche Bauweise auch die Energiekosten kräftig senken werde, will Wernik nicht bestätigen. Mit Blick auf die sonst übliche Mischung aus Strom von thermischen Kraftwerken, Wasserkraft und Atomstrom sagt er: „Wenn wir mit unserem eigenen Energiesystem eine Preisparität mit dem marktüblichen Mix erreichen, ist schon viel gewonnen.“ Vor allem bei den Kosten ist der Weg in den breiten Wohnbau also noch weit. Doch genau das ist auch die Aufgabe von „Rosa Zukunft“: mit der Rolle eines echten Leuchtturmprojekts aufzuzeigen, wohin die Reise gehen wird. Vier Energiequellen, zwei Speichersysteme Soweit zum Konzept. Wie sehen aber die Details in der Umsetzung aus? Zunächst die baulichen Eckdaten: Außer den Aufzügen, der Elektrotechnik und Haustechnik hat die Steiner Baugesellschaft aus Radstadt die meisten Arbeiten übernommen. Gebaut wurde in einer konventionellen Stahlbeton-Bauweise; die Gebäudehülle erreicht dank starker Dämmung Passivhaus-Niveau. Auf die vollständige Umsetzung des starren Passivhaus-Konzepts wurde trotzdem verzichtet. Lediglich in den Küchen und Bädern sind Lüftungsanlagen installiert. Was „Rosa Zukunft“ zu einem echten Pionierprojekt macht, steckt in den Kabelschächten, hinter den Wänden und auf dem Dach: Die Wohnanlage verfügt über vier verschiedene eigene Energiequellen und zwei Speichersysteme. Im Einzelnen sind das: Ein mit Gas betriebenes Miniblockheizkraftwerk mit 30 kW Heizleistung; eine Wärmepumpe mit sieben Tiefenbohrungen, die jeweils zwölf Zentimeter breit sind und bis zu einer Tiefe von 200 Metern reichen; eine Photovoltaikanlage mit einer Leistung von 85 kWpeak sowie ein Fernwärmeanschluss als „Absicherung“.
Als das kleinere der zwei Speichersysteme dienen die vier Elektroautos, die zusammen mit mehreren Dutzend Elektrofahrrädern am Netz hängen und von den Bewohnern genutzt werden können. Doch den Mittelpunkt des Systems bildet der bisher größte im heimischen Wohnbau verbaute Pufferspeicher. Mit einer Höhe von 19 Metern reicht er über sechs Stockwerke, hinein passen 90.000 Liter Wasser – das entspricht etwa 1000 vollen Badewannen. Der wuchtige Wasserspeicher ist mit einer 40 Zentimeter dicken Dämmung ummantelt und lässt sich auf bis zu 90 Grad aufheizen. Hat er seine maximale Temperatur erreicht, können selbst im Winter alle Bewohner der Anlage 48 Stunden lang allein über diesen Speicher mit Wärme und Warmwasser versorgt werden. Das dafür eingesetzte Wasser bildet einen geschlossenen Kreislauf: Jede Wohnung verfügt über einen Kaltwasseranschluss und einen Wärmeplattentauscher, der kaltes Wasser berührungslos in warmes umwandelt. Der Clou: All diese Systeme sind eng miteinander und mit den Netzen des Landesversorgers Salzburg AG verbunden. „Die Energiesysteme sind untereinander so geschaltet, dass sie immer ihre jeweils höchste Leistung erbringen und einander ergänzen. Es geht darum, ein Maximum an Energie vor Ort zu erzeugen und davon ein Maximum auch zu verbrauchen – bei einer gleichzeitigen Einbindung in den Netzbetrieb“, erklärt Wernik. Der Anteil des Eigenverbrauchs an der Eigenerzeugung sei dank der eingebauten Speicher deutlich höher als etwa bei einem Privathaushalt mit eigener Energieerzeugung. Das Zusammenspiel der Systeme Noch mehr in die Zukunft weist die Fähigkeit des Wohnbauprojekts, als aktiver Bestandteil die Schwankungen im überregionalen Stromnetz ausgleichen. Das geht so: Vor Ort geht es im Wesentlichen um das Zusammenspiel von Mini-Blockheizkraftwerk, Wärmepumpe und Pufferspeicher. Dabei produziert das mit Gas betriebene Blockheizkraftwerk den Strom für die Haushalte und Wärme für den Pufferspeicher. Tagsüber ergänzt die PV-Anlage auf den Dächern der „Rosa Zukunft“ die Stromversorgung und beliefert tagsüber die Elektroautos, E-Bikes und gegebenenfalls auch die Wärmepumpe mit Energie. Im Hintergrund steuert ein Energiemanagementsystem die gesamte Anlage. Dabei vergleicht ein „Building Energy Agent“ von Siemens die Daten der Anlage, etwa den Energiebedarf und die vorhandene Energie, über einen „Smart Grid Controller“ mit der Situation im Verteilernetz. Ist die Situation in den Stromnetzen „normal“ – also weder Tal noch Peak –, ist der Betrieb des Blockheizkraftwerks vorgesehen, und zwar in der Regel mit sechs bis acht Stunden täglich. Kurzfristiges Ein- und Ausschalten ist bei einem Blockheizkraftwerk zu vermeiden. Kommt es zu einem Peak in den Stromnetzen, also einer Zeit sehr hoher Nachfrage, sollte auf jeden Fall das BHKW laufen. Dann versorgt sich die Wohnanlage selbst und entlastet so die Netze. Klassische Zeiten für einen Peak sind die Morgenstunden, der Mittag und abgeschwächt auch der frühe Abend. Gibt es im Netz ein Tal, weil die Nachfrage am Boden ist und es zu viel Energie gibt, zum Beispiel nachts, schaltet sich die Wärmepumpe ein. Sie nutzt dann neben der Erdwärme auch den im Überfluss vorhandenen Strom, um den Wasserspeicher mit Wärme zu versorgen. Wenn die Lasten im Stromnetz steigen, schaltet sich die Wärmepumpe wieder ab. Der Effekt: Die Wohnanlage reagiert flexibel auf die Last im Stromnetz und auch im Fernwärmenetz. Wenn nötig, versorgt sie sich selbst, oder sie profitiert von einem Überangebot und hilft damit gleichzeitig, das Stromnetz vor einer Überlastung bis hin zu dem befürchteten Blackout zu schützen. „Totalumbau“: Gebäude, Kraftwerke, Netze Das Modell dahinter heißt „Building2Grid“ und ist Teil jenes Riesenvorhabens, vor dem die Infrastruktur in Österreich und Europa gerade steht – der Wandlung hin zu „intelligenten Netzen“, den Smart Grids.Dieses Ziel lässt sich allein mit dem Bau neuer Stromleitungen niemals erreichen – das Konzept betrifft auch den Bau von Gebäuden, Kraftwerken, die Flexibilisierung des Verbrauchs in Gewerbe und Industrie, die Elektromobilität und nicht zuletzt das Verhalten der Endkunden selbst. „Hier geht es nicht einfach um eine Erneuerung der Systeme. Das ist ein Totalumbau“, so August Hirschbichler, Vorstand der Salzburg AG. Bundesweit existieren im Moment sechs „Pionierregionen“ mit unterschiedlichen Pilotprojekten – neben Salzburg auch im Großen Walsertal, in Vöcklabruck, Murau, Linz und Großschönau. Speziell bei der Umsetzung von Smart Grid-fähigen Wohnanlagen sind Bauvorhaben in Aspern in Planung. Deutlich weiter ist die Wohnbauanlage „Reininghaus Süd“, die ebenfalls in Teilen flexibel auf Stromnetze reagieren kann und im Herbst 2015 fertiggestellt wird. Doch österreichweit habe bisher kein Wohnbauprojekt das Konzept so konsequent umgesetzt wie „Rosa Zukunft“, heißt es bei der Salzburg AG. Offene Fragen bleiben Aufgrund der Komplexität sind allerdings noch sehr viele Fragen offen – unter anderem jene nach der Refinanzierung der Energiesysteme. „Rosa Zukunft“ ist allerdings bestens gerüstet für den Fall, dass Energieversorger den Strompreis auf flexible Tarife umstellen – teurer Strom zu Spitzenzeiten, billiger Strom dann, wenn ihn niemand braucht. Man kann davon ausgehen, dass in einigen Jahren genau solche Wohnanlagen wie die „Rosa Zukunft“ sehr viel häufiger gebaut werden. Zusammen mit smarten Energienetzen und Kraftwerken gleichen sie dann einem riesigen Organismus, der in feiner Abstimmung auf das Energieaufkommen, das Wetter und den Verbrauch reagieren kann – fast so, als wäre das System tatsächlich intelligent.
- Standort: Taxham in der Stadt Salzburg
- 129 Wohneinheiten, davon 99 Miet- und Mietkaufwohnungen, 22 Eigentumswohnungen, acht Reihenhäuser- 160 großteils unterirdische Parkplätze- 11.000 m² Bruttogeschossfläche- Grundstücksgröße 14.800 m²- Fertigstellung 2014- Baukosten rund 22 Millionen Euro Architekten: thalmeier architektur ZT GmbHTeilgeneralunternehmer: Ing. W. Steiner Baugesellschaft mbHBeteiligte Unternehmen: Salzburg AG; Salzburg Wohnbau; TU Wien; Austrian Institute of Technology (AIT); Siemens Österreich u.a.Bauträger: Salzburg Wohnbau / Gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft „die salzburg“ reg.Gen.m.b.H. / Lebenswelt Wohnen GmbH mit Beteiligung des evangelischen Diakoniewerks Salzburg / Ing. W. Steiner Baugesellschaft m.b.H. Energetische Besonderheiten:- Erste Smart Grid-fähige Wohnanlage in Österreich- Entwicklung des Smart Grid-Konzepts „Building2Grid“ unter Federführung der Salzburg AG- Wasserpufferspeicher 90.000 Liter- Photovoltaikanlagen mit 85 kWpeak- Mini-Blockheizkraftwerk mit 30 kW Heizleistung- Wärmepumpe mit sieben Tiefenbohrungen bis 200 m Tiefe Energiekennzahl – Beispiele:- Haus D: HWB 26,1 kWh / m² / a- Reihenhaus C06: HWB 29,4 kWh / m² / a