Schwer verrissen : Risse im Trockenbau
In Bauverträgen wird oft versucht, Risse schon im Vorfeld der Entstehung aus der Gewährleistung zu nehmen. „Risse sind normal und nicht als Mangel zu sehen ...“ heißt es dann. Oder noch fantasievoller wird eine potentielle Rissstelle vorbeugend als Wartungsfuge bezeichnet.
Natürlich ist das bautechnisch Unsinn, und gegenüber Endverbrauchern wohl auch sittenwidrig. Also das Papier nur im Sinne eines Einschüchterungsversuches wert. In nahezu allen Fällen sind derartige Rissbilder das Ergebnis der Praxis der Billigstbietervergabe sowie fehlerhaft geplanter und ausgeführter An- und Abschlussdetails. Fugen und Anschlüsse sind generell zu planen, Gipsbauteile sind von anderen Bauteilen zu trennen, Dehnungsfugen sind bei größeren Bauteilflächen anzuordnen und natürlich sind Bewegungen aus materialbedingtem Schwinden, Kriechen und Bewegungen aus Wind- und Verkehrslasten zu berücksichtigen.
Was man wissen sollte
Zum Fachwissen sollte auch spezifische Materialkenntnis gehören. Der Ausdehnungskoeffizient von 0,013 mm je Meter/Kelvin Temperaturdifferenz bei Gipskartonplatten sollte ebenso geläufig sein wie das Wissen um bis 2 Masseprozent Feuchtigkeitsaufnahme bei 80 % relativer Luftfeuchte.
Wer also bei +5°C 10 m Verkleidung herstellt, hat bei Sonnenerwärmung schnell mal 0,013x25K, also 3,25 mm Längenänderung einzuplanen. Dazu ein starkes Quellverhalten bei Gipsbaustoffen, das sich bei 1-2 % Feuchteänderung mit rund 0,35 mm/m auswirkt! Hier wird Spannung aufgebaut, weil bei den feuchtebedingten Längenänderungen die Unterkonstruktion „stehen bleibt“. Bei den thermischen bewegen sich beide fast im Gleichschritt. Beton hat eine doppelt hohe Zugfestigkeit und wird dennoch nie ohne Bewehrung auf Zug belastet ...
Eher unpräzise Norm
Die neueste ÖNORM B3415 aus 2009 ist zu diesem Thema eher unpräzise. Es wird zwar beschrieben, dass alle Formänderungen konstruktiv berücksichtigt und „aufgenommen“ werden müssen, aber ab wann Zwängungen „bauschädlich“ wirken, bleibt im Streitfall dem Gutachter überlassen. Im Gegenteil findet der „ganz normale Riss“ seinen Ursprung auch unter Ziffer „4.3.4.3.2 Anschlüsse“, wo geschrieben steht, dass „in der Regel“ Gipsplatten fest mit angrenzenden Bauteilen verbunden sind.
Bewegliche Anschlüsse seien erst ab rund 10 mm Verformung vorzusehen. 10 mm! Die starre Verbindung zu einer derartigen Bauteil-Verformung wird fraktale Riss-Dimensionen annehmen müssen. Danke jedoch für den normativen Hinweis der Unzulässigkeit von Anschlussfugen-Hohlkehlen aus Silikon- oder Acrylmassen. Wobei aber eine fachgerechte (!) elastoplastische Bewegungsfuge zulässig bleiben muss. Hier wäre dann der Hinweis zur Wartungfuge nötig und auch zulässig. Die Norm beschreibt vorsichtig „Haarfugen“ als zulässig, hält sich aber sonst zurück. Eine Norm soll ja keine „Wirtschaftsbarriere“ sein!
Wer Näheres wissen will, wird im Merkblatt 3 „Gipsplattenkonstruktionen Fugen und Anschlüsse“ sowie in den Herstellerrichtlinien von z. B. Knauf und Rigips fündig. Hier werden wunderbare Details gezeigt, und es sollte damit klar werden dass der „Trockenbau“ ein fast kunstvolles Handwerk ist. Diese Erkenntnis trifft man auf der Billigstbieter-Baustelle leider allzu selten ...
Autor Günther Nussbaum-Sekora ist EU-zertifizierter Bau-Sachverständiger, Spengler und Dachdeckermeister, Gebäudethermograf und Luftdichtheitsprüfer.
Diese und noch mehr spannende Stories lesen Sie in SOLID Ausgabe 7/8 – Juli/ August 2011