Die österreichische Verkehrsinfrastruktur zählt zu den besten in ganz Europa. Fast 5.000 Kilometer Eisenbahnschienen und mehr als 2.000 Kilometer Autobahnen und Schnellstraßen durchmessen das Land. Aufgrund der Topografie wurden im Lauf der Zeit an die 11.000 Brücken errichtet. Neue Technologien und Materialien im Brückenbau haben die laufende Anpassung von Richtlinien und Normen an den jeweiligen Stand der Technik notwendig gemacht.
Auf Basis gesetzlicher Regelungen ist regelmäßig zu überprüfen, ob bestehende Brücken noch den Belastungsangaben und Sicherheitsansprüchen genügen. Als bestehende Bauwerke gelten Tragwerke, die eine behördliche Benützungsbewilligung nach den geltenden Bauvorschriften erhalten haben.
Neben regelmäßigen Inspektionen kann es auch aufgrund von Schwertransporten, der Einführung höherer Streckenklassen im Bahnbereich, Eingriffen in die Tragstruktur, dem Auftreten von Bauschäden und konstruktiven Mängeln oder außergewöhnlichen Ereignissen notwendig werden, die Tragfähigkeit von Eisenbahn- und Straßenbrücken zu überprüfen. Für eine seriöse Bewertung ist die Ermittlung des aktuellen Zustands auf Basis der gültigen Standards erforderlich.
Bewertung auf Grund von Fakten
Bei bestehenden Bauwerken geht man davon aus, dass sie sich – sofern keine Bauschäden oder konstruktiven Mängel vorliegen – als Tragsysteme bewährt haben. In die Bewertung ihrer Funktionstüchtigkeit dürfen nur festgestellte Fakten einfließen.
Dazu ist eine dem Objekt angemessene Zustandsaufnahme vorzunehmen. Diese enthält üblicherweise die Abmessungen der Tragstruktur, die verwendeten Baustoffe und ihre Eigenschaften sowie allfällige Mängel und Schäden zum Zeitpunkt der Untersuchung.
Die ONR 24008 „Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Eisenbahn- und Straßenbrücken“ enthält genaue Instruktionen, wie Werkstoffuntersuchungen an den unterschiedlichen Brückentypen durchzuführen sind, wie die Tragfähigkeit nach aktuellem Standard rechnerisch nachzuweisen ist und wie eine Abgrenzung zwischen den letztgültigen Normen und den bei der Errichtung gültigen Richtlinien zu erfolgen hat.
Historische Richtlinien
Da es sich bei Brücken oft um historische Bauwerke handelt, ist zu klären, nach welchen Standards sie errichtet wurden. Die Berechnung der Tragfähigkeit hat entweder nach dem alten oder nach dem aktuellen Regelwerk zu erfolgen. Bereits die Ausgabe 2006 der ONR 24008 beinhaltete alte Regelwerke, die bis in die Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie zurückreichten.
In der aktualisierten Fassung 2014 wurden weitere zusätzliche historische Standards aufgenommen und bereits vorhandene Dokumente komplettiert. Aktuelle Normen beziehen sich vorwiegend auf die heute gebräuchlichen Stahl-, Stahlbeton- und Spannbetonbrücken.
Die Kenntnis der zum Zeitpunkt der Errichtung gültigen Standards ist vor allem dann wichtig, wenn seinerzeit Materialien zum Einsatz kamen, die heute nicht mehr oder in anderer Zusammensetzung verwendet werden. So wurden etwa bei der Semmeringbahn Brückenkonstruktionen mit Ziegelsteinen ausgeführt. Naturstein- und Ziegelbrücken werden in der ONR 24008 unter Verweis auf die ÖNORM EN 1996-1-1 zur Ermittlung der Mauerwerksfestigkeit thematisiert.
Von Bedeutung sind auch historische Rezepturen, etwa von Mörtel oder Beton. Weiters hat die Bestandsaufnahme zu klären, ob das Bauwerk schädlichen Einflüssen – etwa durch chloridhaltiges Wasser – ausgesetzt war.
Model Code zeigt Belastungsreserven Derartigen Eventualitäten trägt die aktualisierte ONR Rechnung, weiß Dipl.-Ing. Karl Stumwöhrer, der das zuständige Komitee bei Austrian Standards koordiniert: „Mit dem fib Model Code 2010, der in das Berechnungswerk eingeflossen ist, lassen sich bestehende Reserven der Bauwerke hinsichtlich Belastungen durch Querkraft und Torsion rechnerisch nachweisen.“ Mit dem Verfahren lassen sich verbindliche Empfehlungen für die Bewertung von Stahlbeton und Spannbetontragwerken abgeben.
Update auf Eurocodes
Mit der aktuellen Fassung der ONR 24008 wurden auch die Werkstoffkennwerte nach älteren Normen auf Eurocode- Status aktualisiert. Die seit 1. Juli 2009 in Österreich verbindlich eingeführten Eurocodes basieren auf dem sogenannten semiprobabilistischen Sicherheitskonzept. Das österreichische Verkehrsrecht legt solche Grenzwerte in Form des Höchstgewichts, mit dem Straßen und Gleiskörper befahren werden dürfen, fest.
Die überarbeitete ONR 24008 beinhaltet Lastmodelle für Straßenbrücken für den aktuellen Verkehr einschließlich Sonder- / Schwertransporten und berücksichtigt zusätzlich auch militärische Lastklassen.
Wirklichkeitsnahe Bewertung
Die ONR 24008 regelt die wirklichkeitsnahe Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Brückenbauwerke. Neben der Berechnung von (Belastungs-) Reserven mittels Model Code 2010 wurde auch der Nachweis der Restlebensdauer von Stahltragwerken in die ONR aufgenommen.
Damit wird abschätzbar, wann eine Brücke erneuert werden muss, und es lässt sich der qualitative Nachweis erbringen, dass Verkehrsbrücken den zu erwartenden Belastungen standhalten. Mögliche Beeinträchtigungen der Zuverlässigkeit können rechtzeitig erkannt und unnötiger Mitteleinsatz vermieden werden.