SOLID-Bericht : Mit Holz und Beton gegen die bebende Erde
Von Peter Martens
(erschienen in SOLID 06/2012)
An einem Sonntag Ende Mai bebte in Italien wieder die Erde. Ein Erdbeben der Stärke 5,9 auf der Richter-Skala um vier Uhr früh und zahlreiche Nachbeben in den folgenden Tagen zerstörten tausende Gebäude in den norditalienischen Provinzen Bologna, Modena und Ferrara.
Besonders betroffen ist die Region Emilia Romagna und der Ort Finale Emilia. Mindestens sieben Menschen kamen ums Leben, rund 5000 wurden obdachlos. Während hunderte Bewohner in provisorischen Notunterkünften Schutz suchen mussten, verhängte Italiens Regierungschef Mario Monti über die Region den Notstand. Der Präsident von Emilia Romagna, Vasco Errani, bezeichnete den Schaden der Bausubstanz als "enorm" und sprach von einem "zweiten L'Aquila".
Bauexperten: Pfusch verantwortlich für Schäden
Tatsächlich ruft das Ereignis in Norditalien Erinnerungen an das verheerende Erdbeben in L'Aquila im April 2009 hervor. Damals kamen in der Hauptstadt der Abruzzen 298 Menschen ums Leben, 36.000 wurden obdachlos. Die Bilder der stark beschädigten Gebäude gleichen sich. Auffallend ist, dass bei beiden Naturkatastrophen nicht nur Häuser aus dem Barock und der Renaissance eingestürzt sind - sondern auch zahlreiche Neubauten.
Gerade der Einsturz neuer Wohnhäuser und Fabrikhallen sei "sehr bedenklich", sagte der Chef des Zivilschutzes, Franco Gabrielli und sprach von "erheblichen Baumängeln". Auch vor drei Jahren protestierten zahlreiche Bauwissenschaftler und Architekten gegen den verbreiteten Pfusch am Bau. Die meisten in L'Aquila zerstörten Gebäude stammten aus den 1970ern und 1980ern, viele hätten nicht einmal über einfachste statische Vorkehrungen verfügt - "ein Skandal", meint Michele Calvi, Bauwissenschaftler von der Universität Parma. Und Franco Barberi, Chef der Kommission für Naturgefahren: "Ein Erdbeben wie in den Abruzzen hätte in Kalifornien nicht einmal ein einziges Menschenleben gekostet."
Neue Aufträge nach dem Erdbeben 2009
Einige aus der italienischen Baubranche werden nach dem jüngsten Erdbeben sicher an Baustoffproduzenten aus Österreich denken. Denn vor drei Jahren bescherte vielen von ihnen das traurige Ereignis in L'Aquila ein Eintrittsticket in den breiten italienischen Markt - und die Chance, zu zeigen, wie man gut und schnell und vor allem erdbebensicher bauen kann. Das kam so: Im Sommer 2009 schrieb der italienische Zivilschutz Protecione Zivile in der Region L'Aquila Projekte für 30 dreigeschossige Wohngebäude mit rund 1000 Wohneinheiten aus.
Die Vorgaben: Maximale Schnelligkeit wegen des nahenden Winters und der vielen Zeltstädte, niedriger Preis und dauerhaft bewohnbare Häuser statt der bis dahin üblichen Wohncontainer für Katastrophenopfer. Rund 70 % der Aufträge gewannen Holzbaufirmen, der größte Teil von ihnen österreichisch-italienische Konsortien. Sie boten Baukosten von etwa 1200 Euro/m2 und eine Errichtungszeit, die sogar unter den vorgeschriebenen 80 Tagen lag. Unter den Beteiligten sind in Österreich ansässige Betriebe wie etwa binderholz, KLH, Mayr-Melnhof, Stora Enso Timber oder WOLF Haus.
Das kommt nicht von ungefähr. Italien ist traditionell ein Kernmarkt der heimischen Holzbranche: Seit vielen Jahren sind heimische Betriebe mit ihren Baustoffen und eigenen Netzwerken auf der Apenninhalbinsel präsent. Österreichs Holzindustrie exportiert rund 70 % ihrer Produktion, davon gehen rund 60 % nach Italien. Dort machen wiederum österreichische Produkte knapp 60 % der Holzimporte aus. Doch Aufträge der Größenordnung wie in L'Aquila bekamen sie trotzdem noch nie - und Mehrgeschosser aus Holz waren in Italien bis dato eine absolute Neuheit.
Ein Beispiel ist das Konsortium aus binderholz Bausysteme, Schafferer Holzbau und den Italienern Sistem Costruzioni und Wood Beton. Das Tiroler Familienunternehmen binderholz lieferte dabei weitgehend montagefertige Bauelemente aus Brettsperrholz und ganze fertige Stiegenhäuser direkt an die Baustelle, die Italiener übernahmen die Montage vor Ort. Eingesetzt wurden BBS-Paneele (binderholz Brettsperrholz) mit einer Standardbreite von 1,25 m, einer Länge bis 24 m und in drei, fünf oder sieben kreuzweise verleimten Brettlagen mit einer Dicke zwischen 6 und 35 cm. "Dieser Großauftrag hat uns und der gesamten Holzbaubranche einen enormen Umsatzzuwachs beschert", erinnert sich Helmut Spiehs, Geschäftsführer von binderholz Bausysteme. Mit den Partnern errichtete sein Unternehmen 373 Wohnungen in sechs Monaten schlüsselfertig und bestand auch die anschließenden - ausnahmsweise sehr strengen - Kontrollen zur Statik und dem Schallschutz. Das Projekt wurde in der ganzen Baubranche bekannt. "Diese Baustelle, damals die größte Holzbau-Baustelle Europas, hat in Italien enormes Vertrauen in den massiven Holzbau geschaffen", meint Spiehs.
373 Wohnungen in sechs Monaten schlüsselfertig
So lieferte Binderholz 2009 innerhalb eines halben Jahres 11.000 m3 Brettsperrholz, das war ein Fünftel der Produktkapazität. Im Folgejahr weiteten die Tiroler ihre Produktion aus und konnten den Absatz des Jahres 2009 sogar übertreffen - diesmal allerdings ohne eine Großbaustelle. Daten zum Markt bestätigen diesen Trend. Nach Untersuchungen der Genueser Consultingfirma Paolo Gardino hat sich in Italien der Anteil der Holzbauweise im Wohnbau bis 2011 innerhalb von fünf Jahren auf etwa 5000 Wohneinheiten verfünffacht, während der Wohnbau Italiens insgesamt deutlich rückläufig war. Die große Mehrheit der Holzbauten sind bis heute Einfamilienhäuser. Genau diesen Punkt betrifft laut Spiehs die zweite positive Erfahrung für binderholz: "Vorher hat es oft geheißen, Holzbau sei für Einfamilienhäuser geeignet, aber nicht für eine Großbaustelle. Das haben wir entschieden widerlegt. In L'Aquila haben wir bewiesen, dass mit unserem System BBS auch eine Großbaustelle zu bewerkstelligen ist."
Das entscheidende Kriterium für den Protezine Civile war neben der Schnelligkeit und Qualität natürlich die Erdbebensicherheit. Das wurde in zwei Stufen erreicht: Erstens mit der kontrollierten Entkoppelung zwischen Gebäude und Baugrund. Dazu ließ der Zivilschutz von Italienern zunächst wuchtige Betonfundamente errichten. Wie sie funktionieren, erklärte Wolfgang Winter, der an der TU Wien sowohl Architektur als auch Bauingenieurwesen unterrichtet, gegenüber SOLID bei einem Baustellenbesuch in L'Aquila.Demnach wird zunächst in einer Grube eine schwere Bodenplatte mit Hochbewehrungen verlegt. Darin eingespannt sind nach oben ragende Stützen von rund einem Meter Durchmesser. Zwischen diesen Stützen fühlt man sich wie in einer engen, aber gewöhnlichen Tiefgarage. Das Besondere sind die neoprenen Gummilager auf diesen Säulen. Sie sind etwa 10 cm dick und mit Stahlplättchen von etwa 5 mm bewehrt. Darauf wird eine zweite, etwa einen halben Meter dicke Betonplatte "gelegt", die Verteilerdecke. Sie dient dem darüber liegenden Gebäude als Fundament. Wenn die Erde bebt, bilden die unterste Bodenplatte und die Säulen einen ersten Puffer. Der zweite Puffer sind die Gummischichten, welche die Kräfte abgemildert nach oben weitergeben. Auch die aufliegende Verteilerdecke hat ihrerseits einen gewissen Spielraum. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass das darauf stehende, relativ leichte Gebäude einstürzt, sehr viel geringer als bei einem schweren Massivbau auf einem klassischen Fundament.Statisch bei Sturm, flexibel beim BebenDie zweite Stufe der Erdbebensicherheit ist der Holzbau. Der ist zum einen elastischer und leichter als andere Baustoffe. Laut Winter wirkt bei einem Erdbeben eine Kraft auf das Gebäude ein, die proportional zur Masse des Hauses ist - je leichter, desto stabiler. "Zement wiegt 2400 kg/m3, Stahl bis zu 7800 und Holz mit 400 kg/m3 nur einen Bruchteil davon."Zum anderen kommt die Sicherheit über die Konstruktion selbst. Die Wände und Decken eines Hauses werden über Stahlwinkel und Schrauben miteinander verschraubt. Für einen "normalen" Lastfall wie etwa einen schweren Sturm ist die Konstruktion gut gerüstet und bleibt völlig statisch, erklärt Helmut Spiehs. "Wenn aber eine sehr große dynamische Kraft wie beim Erdbeben das Haus bewegt, können sich die einzelnen BBS-Paneele über die Verschraubungen bewegen. Die Paneele sind also flexibel verbunden, jede Schraube wirkt wie ein Stoßdämpfer - das Gebäude verformt sich, aber die Wände brechen nicht. Und nach dem Erdbeben bleibt das Gebäude stabil und steht wie vor dem Erdbeben wieder gerade da."Wackelnde Hochhäuser: Tests in JapanDass dies tatsächlich so ist, wurde bei einem in der Fachwelt aufsehenerregenden Versuch 2007 in Japan getestet. Unter Leitung des italienischen Forschungsinstituts IVALSA wurden 250 m3 in Deutschland zu Brettsperrholz verarbeitet und in die japanische Stadt Miki verschifft, wo der größte Erdbebentisch der Welt steht, er misst 15 mal 20 m. Darauf errichteten die Beteiligten ein 7,5 mal 13,5 m großes und 23,5 m hohes siebenstöckiges Gebäude aus Brettsperrholz. Die Lasten wurden mit einer Auflast von 30 t pro Stockwerk simuliert. Das fertige Gebäude setzten die Forscher einem Erdbeben der Stärke 7,2 aus, das dem Erdbeben von 1995 im japanischen Kobe entspricht, dem stärksten in den letzten Jahrzehnten gemessenen Erdbeben. Das als "Progetto SOFIE" (d. h. Sistema Costruttivo Fiemme) bekanntgewordene Projekt lieferte beeindruckende Ergebnisse: Während vier realistischer Erdbebensimulationen hintereinander blieb das Gebäude stehen und bildete keinerlei Gefahr für die imaginären Bewohner. Allerdings berichtet IVALSA, dass es Schäden gegeben habe, die jedoch reparabel gewesen seien.Genau dieses Detail bleibt von Fall zu Fall verschieden - denn, wie viel an einem Holzhaus nach einer schweren Erschütterung zu machen ist und ob es weiter bewohnbar bleibt, ist offen. Für Helmut Spiehs sind jedoch zwei andere Dinge entscheidend: "Erstens ist bewiesen, dass das Gebäude nicht einstürzt. Zweitens brechen keine Versorgungsleistungen, etwa Gasrohre, so dass es nicht zu Explosionen kommt. Damit wird das Wichtigste erreicht, nämlich dass die Bewohner nicht zu Schaden kommen."
Überzeugende Argumente also, in einem Land, das die höchste Erdbebengefährdung Europas aufweist, öfter auf Holzbau zu setzen, oder zumindest auf die erdbebensicheren Sockel aus Beton. "Wenn der Protezione Civile diesmal neue Projekte ausschreibt, werden wir uns natürlich bewerben", sagt Helmut Spiehs. Das Bewußtsein für erdbebensicheres Bauen sei auf jeden Fall gestiegen, bestätigt auch Sieglinde Weger von promo_legno, einer gemeinsamen Initiative italienischer Holzbauverbände und des Interessensverbands ProHolz Austria. Weger analysiert laufend den italienischen Markt - und ist derzeit nicht allzu optimistisch. "Anteile vom Baustoff Holz im italienischen Wohnbau steigen permanent und sie werden weiter steigen", meint sie. "Doch die Wirtschaftskrise macht uns derzeit einen Strich durch die Rechnung."Eine Warnung an BaukollegenIn diesem Zusammenhang warnt Spiehs Baufirmen generell vor zwei landestypischen Schwierigkeiten. "Im italienischen Markt muss man zwei Fakten beachten. Der erste Punkt ist die Finanzierung. Sehr viele Baustellen laufen nicht an, weil Banken den Bauherren kein Geld zur Verfügung stellen. Die zweite Schwierigkeit: Man muss bei jedem Auftrag sehr darauf achten, dass die Bezahlung sichergestellt ist. Also liefern wir erst aus, wenn das passt - und zwar über eine Vorauszahlung oder eine Bankgarantie."Arbeit, erzählen heimische Baubetriebe, gibt es derzeit in Italien mehr als genug. Speziell die Holzbaubetriebe haben jedoch noch einen langen Weg vor sich. Auch wenn sich der Anteil der Holzbauweise im Wohnbau seit 2005 verfünffacht hat, bewegt er sich derzeit laut Analysen der Genueser Paolo Gardino Consulting bei einem Marktanteil von 4,2 %. Denn abgesehen von der heutzutage oft miserablen Ausführung gehörten italienische Baumeister viele Jahrhunderte zu den besten der Welt. Und ihre Kultur des Bauens setzt in dem mediterranen Land weiter auf den Massivbau - Steine, Ziegel und Beton.
(SOLID 06/2012)