SOLID 03/2019 : Mit Anergie vernetzt für weniger Emissionen
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IC-Development-Geschäftsführer Walter Hammertinger und der sich selbst etwas kokett als niederösterreichischer Landbaumeister (die Koketterie beginnt schon mit der Bezeichnung der reichen Wiener Grenzgemeinde Perchtoldsdorf als Land) Herbert Hetzel arbeiten schon sehr lange zusammen, 15-18 Jahre in unterschiedlichsten Rollen bei der Entwicklung des Wiener Stadtquartiers Viertel Zwei, nahe dem Ernst Happel-Fußballstadion und rund um die ehemalige Trabrennbahn Krieau. Das Viertel Zwei gilt als eines der Vorzeige-Entwicklungsprojekte Wiens, wenn nicht Europas, und die IC Development fährt dort seit Beginn einen Kurs des ambitionierten Blicks in die Zukunft. Ein Blick, der „durchaus angstgetrieben“ ist, wie Hammertinger und Hetzel sagen, denn schließlich gehe es darum, Dinge zu einem möglichst frühen Planungszeitpunkt zu entwickeln, die bei der Fertigstellung der Gebäude fünf bis acht Jahre später State of the Art sind und am Markt nicht nur bestehen, sondern auch Mehrwert erzielen können. Das Anergienetz des Kraftwerks Krieau ist eines dieser Mehrwert-Dinge – und eine erste Zwischenbilanz nach einem Jahr ist mehr als positiv: Kostengleichheit mit herkömmlichen Energielieferanten (bei Projekten wie diesem und auch in der ersten Phase des Viertel Zwei üblicherweise Fernwärme) war sowieso die Voraussetzung, aber auch das Nachhaltigkeitsziel der Emmissioneinsparungen konnte erreicht werden – gegenüber herkömmlichen Heizsystemen maß man eine CO2-Reduktion von bis zu 60 Prozent. Und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit ist überhaupt der Motor des Konzepts – dazu aber etwas später.
Auch Walter Hammertinger hat – für die Spitze eines Immobilien-Developers nicht ganz typisch – einen reinrassigen Bau-Hintergrund. Er absolvierte die Hochbau-HTL und studierte danach Bauingenieurwesen mit Vertiefung ins Projektmanagement. „Für mich war bald klar, dass die Entwicklerseite die Seite ist, auf der man am meisten bewegen kann“, sagt er.
Und ja, üblicherweise stehe an der Spitze eines Developers kein Bau-Studierter, sondern ein „Dealmaker“. „Aber ein Dealmaker hat an dem, was wir hier tun, genau kein Interesse“, sagt Hetzel und erklärt das Herangehen der IC Development und das Entstehen des Kraftwerks Krieau aus der historischen Entwicklung des Viertel Zwei heraus.
Viertel Zwei: Anatomie der machbaren Projekte
Der große Vorteil der IC sei, sagt Hammertinger, alles im Haus und auf entsprechender Entscheiderebene zu haben: „Wir haben die Fähigkeit und die Kraft, etwas vom Anfang bis zum Ende fertig zu denken. Wir schaffen es, ein Ziel wie einen Stadtteil schon am Anfang so zu formulieren, dass man es auf machbare Projekte herunterbrechen und sie sukzessive umsetzen kann.“
Die Geschichte des Viertel Zwei zerfällt dabei in drei Phasen. In Phase 1 von 2004-2010 lag der Schwerpunkt auf Büros. „Wir wollten der Business-Standort in Wien sein, der den meisten Mehrwert bietet.“ In diese Phase fiel auch mit der OMV-Konzernzentrale 2006 der größte Vermietungserfolg. Von Anergie war damals noch keine Rede, aber das Nachhaltigkeitsthema gab es mit flexiblen Büroräume, Kühldecken, Ressourcenschonung, Niedertemperatur und einer raumhohen Glasfassade mit passendem Kühlsystem bereits, obwohl die Zertifikate erst 2008/09 überhaupt eingeführt wurden.
Die Energieversorgung in dieser Phase funktionierte noch durch Fernwärme, allerdings mit Umformern. Hetzel: „Wir haben schon dort versucht, für die verschiedenen Nutzer durch Management der Volllaststunden eine Verbesserung der Verrechnungssituation zu ermöglichen.“ Denn gäbe es weniger Vollaststunden, würde die Fernwärme mehr verlangen.
Daraus entstand, sagt Hetzel, letztlich die Idee, die zum Kraftwerk Krieau führte: „Es muss doch möglich sein, da einen gewissen Ausgleich zwischen den Gebäuden zu schaffen, dachten wir.“
Heute schaut man lächelnd darauf.
Die Phase zwei (die quasi abgeschlossen ist) und die im Planungsstadium befindliche Phase drei sind nicht mehr bürolastig, sondern haben Städtebau als Gesamtprojekt als Thema. Die Aufteilung zwischen Wohnen und Gewerbe soll in etwa 50:50 mit einem wohnwirtschaftlichem Schwerpunkt betragen. Damit wären in den unterschiedlichen Gebäuden zu unterschiedlichen Zeiten und abwechselnd Belastungsspitzen und Zeiten mit niedrigem Energieverbrauch. Hammertinger: „Das ermöglicht auf einmal ganz unterschiedliche Facetten, wie man mit Themen umgeht. Da geht es sowohl um Dinge wie die Bespielung von Freiräumen, aber eben auch darum, wie man mit Energie umgeht.“ Und das heißt: von der reinen Energieverteilung zur Energieproduktion.
In Phase zwei hieß es 70.000 m2 Bruttogeschoßfläche gleichzeitig und in einem entwickeln. In Phase 3 geht es um über 130.000 m2, darin denkmalgeschützte Stallungen, 12.000 m2 Bestand, Wohnturm, Gewerbeturm, Schule. Hetzel: „In diesen acht Jahren werden sich da draußen sehr viele Dinge verändern, von denen wir noch gar keine Ahnung haben. Wir müssen daher jetzt schon anfangen, für das Produkt, das am Ende da steht, irgendeine Qualität zu schaffen, die dann in den Markt hinein passt. Das ist schon auch angstgetrieben. Denn hoffentlich machen wir nichts falsch, sonst ist das Produkt schlecht.“
Wie aber kam es genau zum Kraftwerk Krieau, dem „Energielaborversuch am eigenen Körper“ (Hetzel) im Viertel Zwei?
2013 tauchte irgendwann wärend des einige Monate dauernden kooperativen Verfahren mit vielen Proponenten, Arrangements der Baumassen, Verkehrswege und auch verschiedenen Energieversorgungskonzeptionen das Denkmodell auf, das alles ändern sollte: Man begann sich vorzustellen, die Häuser hätten gar keine eigene Energie, sondern nur einen Anschluss für einen Vor- und einen Rücklauf, das müsste genügen. Die Energiebereitstellung selber passiert irgendwo anders - wie eben bei der Fernwärme.
Aber dann hätte das IC-Denken eingesetzt.
Bei den vorher errichteten Bürohäusern gibt es wie allgemein üblich eine Kältemaschine auf dem Dach und die Nutzer unten zahlen den Strom dafür.
Aber bei einem Verkauf z.B. an einen Fonds könnte in dieser Konstellation folgendes passieren: „Dessen Interesse ist nur der Mieterlös und nicht, ob diese Kältemaschine wirtschaftlich funktioniert. Jeder Wartungseuro läuft seinem wirtschaftlichen Interesse zuwider und er hat auch keine Wartungsexpertise.“ Daher bleibt die Maschine dort, bis die letzte Schraube heraus rostet, und wenn sie in 20 Jahren kaputt wird, gibt es den billigsten Ersatz ohne Rücksicht auf Stromaufnahme, Energieeffizienz etc. Das Problem wird weiter transportiert.
Gibt es aber nur Vorlauf/Rücklauf und jemand anders ist für die Energie verantwortlich, hat man noch immer den zahlenden Nutzer, aber es gibt als Lieferant ein Unternehmen mit eigenem unternehmerischem Interesse daran, dass die Herstellung dieser Kälte wirtschaftlich passiert. Hetzel: „Und vorzugsweise State of the Art und CO2-reduziert, damit ich meinen Kindern später einmal sagen kann, dass Blätter auf den Bäumen bleiben. Auf einmal bekommt das Thema eine Kraft und dann sitzt man irgendwann vor einer Excel-Tabelle und sieht plötzlich dem Punkt, ab dem die Dinge gleichpreisig, aber besser sind.“ Man sei dann aufgrund des eigenen Interesses dann in seinem Unternehmen immer State of the Art „und plötzlich habe ich die Angst nicht mehr, dass das, was ich anbiete, nach acht Jahren, wenn die Entwicklung des Stadtteils fertig ist, veraltet ist.“ Die Haustechnik wird auf diese Art und Weise funktionieren, als ob sie am Tag der Fertigstellung neu errichtet worden wäre.
Zukunft Speicherung
Im Anergienetz ist zudem eine ständige Schwerpunktverschiebung und Austausch von Komponenten möglich, nur das Prinzip bleibt gleich. Die Folge: „Wir beschäftigen uns heute ernsthaft mit dem Thema der Speicherung von elektrischer Energie“, während es derzeit noch ausschließlich um Wärme und Kälte ging. Bei elektrischer Energie sind die Zyklen durch schnelle Produktentwicklung noch kürzer, so setze man sich derzeit mit Liquid Metal-Batterien auseinander – eine Technologie, an der derzeit vornehmlich in den USA gearbeitet wird. „In Europa wollen wir die ersten sein“)
Zu früh für die Wien Energie?
Die Wien Energie ist dabei dem Projekt durchaus freundschaftlich verbunden, es gibt auch eine Reihe von Projekten, die hier umgesetzt wurden. Die Frage liegt auf der Hand: Warum macht nicht die Wien Energie das Ganze? Schließlich kommen alle Komponenten aus dem Regal und es handle sich um „keine Reise zum Mond“. Aber abgesehen von der bevorzugten „Verhandlung mit uns selbst“ könne die Wien Energie derzeit gar nicht einsteigen, da so früh im Prozess sonst potenzielle Anbieter, Konsulenten etc. ausgeschlossen würden.
Ein Denken wie das beim Kraftwerk Krieau bedinge aber, dass man ganz vorne im Projekt damit eingrätscht.
Hammertinger betont das dazu notwendige spezielle Verständnis von Projektmanagement: „Wir haben beide die Grundtendenz, dass in einem Projekt alle Entscheidungen, die – natürlich seriös und mit aufbereiteten Entscheidungsgrundlagen - früh getroffen werden können, auch getroffen und nicht auf die lange Bank geschoben werden.“
Hetzel: „Dadurch wird erst möglich, dass man so etwas überhaupt andenken kann.“ Im klassischen Geschäft ginge demgegenüber meistens aufgrund der Zeitstruktur nur mehr ein Fernwärmeanschluss und sonst nichts mehr.
Kann das Anergie-Kraftwerk-Denken unter dieser Prämisse überhaupt größer werden, fragen wir? Hetzel glaubt ja. In Phase drei „denken wir ernsthaft drüber nach, was wir mit der Messe Wien und dem Shopping Center Stadion machen“. Es sei auch eine der Bemühungen mit der Stadt, Lösungen zu finden, um diesen Lösungsansatz in die nächsten Bereiche zu bringen. „Das benachbarte „Wiener Wohnen“ als singuläre Lösung ist wahrscheinlich zu gleichförmig, könnte aber in Verbindung mit dem Shopping Center absolut Sinn machen. Je größer das wird, desto sympathischer wird so ein System.“
Wie weit vernetzt und in Konsequenz gedacht wird, veranschaulicht das Thema Photovoltaik. Diese sei für Hetzel ein schwieriges Thema, man mache nur, was in der Bauordung vorgeschrieben ist. Warum? Einerseits weil Photovoltaikzellen auf der einen und das Dach selber unterschiedliche Refurbishment-Zyklen hätten, andererseits gäbe es bei Problemen auf dem Dach wieder mögliche Interessenskonflikte zwischen Haus- und Kraftwerkbetreiber.
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Zwischendurch "kein Ansatz, an den Erfolg zu glauben"
Das hört sich alles nach einer zwar gewagten, aber im Grunde gemütlichen und beständigen Reise an. Nachdem das fast nie so ist, fragen wir nach den größten Schwierigkeiten auf dem Weg? „Wir hatten keine Ahnung über die Regelerfordernisse “, sagt Hetzel, zusätzlich wäre die Anlage in Betrieb gegangen, als nicht einmal ein Viertel der Nutzer hier waren, was zu einigem Chaos und Projektverzögerungen geführt hätte. „Ich kann mir vorstellen, dass in solchen Situationen Unternehmen zusperren“, meint Hetzel, und „es gab keinen Ansatzpunkt, um an die Zukunft zu glauben. Da braucht man ein sehr starkes Durchhaltevermögen und große gegenseitige Wertschätzung.“
Erst nach dem gelungenen ersten Jahr gebe es nun Überlegungen, um Grundlagen für eine Bankenfinanzierung auf den Boden zu bringen.
Walter Hammertinger stellt es cooler dar: „Ich war immer überzeugt, auch in den Phasen, in denen es sich nicht so dargestellt hat wie geplant. Auch zu dem Zeitpunkt, wo es um die Entscheidung ging, nicht nur das fertig zu machen, sondern es für die nächste, doppelt so große Phase zu fixieren. Es ging immer um den Willen und den Glauben an unsere gemeinsamen Fähigkeiten. Das Herausforderndste war eigentlich die organisatorisch-rechtliche Abwicklung.“
Mittlerweile gibt es schon ein paar Regelschablonen für bestimmte Standardsituationen und Wege, mit dem sehr schwierigen Thema der Teillasten umzugehen. Dazu sähe man bereits Sockelverbräuche über ein Jahr, woraus sich die Möglichkeit ergäbe, einen Grundbedarf übers ganze Jahr beispielsweise mit einem Blockheizkraftwerk abzudecken. Daraus wären dann weitere Verbesserungsschritte möglich und so ginge es immer weiter. „Die großen Dinge kann man planen, die kleinen muss man sich erarbeiten.“
Anergienetz – was ist das?
Was so spacig klingt, ist an sich leicht erklärt – wenn auch in der Erarbeitung tricky.
Als Anergie wird rein technisch jener Bestandteil einer Energie bezeichnet, der in einem Prozess keine Arbeit verrichten kann. Weniger hochgestochen: Die Energie der Umgebung ist reine Anergie.
Für ein Anergienetz wie im Viertel Zwei wird Altbewährtes neu kombiniert: Man verwendet bewährte Systeme wie Erdwärmesonden, Grundwasserbrunnen, Abwassernutzung etc. und kombiniert sie in einem intelligenten Verbund so, dass sie sich ideal ergänzen. Dieser Energieverbund hat den Vorteil, dass wenig Energie durch Verteilverluste verloren geht. Ein Anergienetz kann man daher auch als Nahwärmenetz bezeichnen.
Ein Anergienetz funktioniert dann am besten, wenn es unterschiedliche Nutzungen ideal miteinander kombiniert – wenn also z. B. die Abwärme aus der Kühlung der Bürogebäude für die Warmwasseraufbereitung der Wohnungen verwendet wird.