Stadtplanung : Ist die geplante Smart City für Toronto ein zu gewagtes Experiment?
Wenn Sidewalk Labs eine Tochter von Alphabet ist und Alphabet die Mutter von Google – dann müsste es genau genommen die Schwester von Google sein, die in Toronto ein neues Stadtviertel baut.
Die Verwandtschaftsverhältnisse sollen aber nur die Kirsche auf dem Berg der Kontroversen darstellen, die das futuristische Bauprojekt schon verursacht hat. Und dabei ist es bis zum geplanten Baubeginn noch ein paar Jahre hin.
Vor eineinhalb Jahren gewann Sidewalk Labs, eine 2015 gegründete New Yorker Innovationsorganisation im Bereich Infrastruktur, eine Ausschreibung der Stadt Toronto, die östliche Uferzone neu zu gestalten. Ursprünglich sollten damit vor allem Platzprobleme und der unzureichende öffentliche Verkehr gelöst werden. Denn die Hauptstadt der Provinz Ontario ist mit fünfeinhalb Millionen Menschen nicht nur die größte Stadt Kanadas, sondern auch die am schnellsten wachsende. 2025 werden es laut Prognosen knapp sechs, 2050 schon über sieben Millionen sein.
Google-Schwester für ein anderes Morgen
Das wäre dann zehn Jahre, nachdem „Toronto Tomorrow“, wie Sidewalk Labs das Projekt nennt, fertiggestellt sein soll. Kürzlich hat die Organisation seinen 1.500 Seiten langen Masterplan für das Stadtviertel vorgestellt. Etwa ebenso massiv mutet die Ambition an, dass es eines der innovativsten Viertel der Welt sein wird, wie Dan Doctoroff, CEO von Sidewalk, es bezeichnet.
Geplant ist das folgendermaßen: Auf einem 77 Hektar großen Areal wird mit einer Investitionssumme von umgerechnet 815 Millionen Euro wird eine intelligente Stadt gebaut. Geplant sind 2.500 Wohneinheiten, davon soll knapp die Hälfte unter dem aktuellen Marktwert kosten. Um noch einen Superlativ draufzusetzen, wird Toronto Tomorrow „das erste großvolumige Holzbau-Viertel der Welt“ sein, heißt es von den Entwicklern. Konkret bedeutet das den Plan von zwölf Wohntürmen aus Holz – bis zu 35 Stockwerke hoch. Und da die meisten Bauteile in einer eigens dafür geschaffenen Produktionsanlage vorfabriziert und dann im Modulbau an Ort und Stelle zusammengesteckt werden sollen, sei es wie „Bauen mit Lego“.
Beim Thema Holz kommt aber schon der erste von vielen Kritikpunkten auf. Mehrere Experten für Stadtentwicklung zeigten sich seit Veröffentlichung der Pläne besorgt darüber, dass bei dem Projekt verschiedene experimentelle Bauelemente und Bautechniken mehr oder weniger übereinander gelegt würden. Und bei Holzbauten im Allgemeinen und hohen Holzbauten im Besonderen bräuchte es viel Erfahrung. Die hat Sidewalk Labs in seiner erst vierjährigen Geschichte einfach noch nicht gesammelt.
Eine Stadt aus Holzlego, Robotern und Sensoren
Dafür hat Sidealk Labs sehr viele hübsche Pläne für Toronto. Mit dem Gehsteig bereits im Unternehmensnamen, will es eben jene und auch die Radwege beheizen. So soll sich im Winter – der in Kanada zugegeben sehr lang ist – kein Schnee ansammeln. Ein weiteres besonderes Feature sind „Regenmäntel für Gebäude“, im Prinzip riesige Abdeckplanen, die zwischen den Häusern gespannt werden und öffentliche Plätze vor Regen schützen. Hinzu kommen ein modulares Pflastersystem, das für Veranstaltungen umfunktioniert werden kann, öffentliches Wifi, selbstverständlich mit G5-Infrastruktur, und ein großes Versprechen an die Umwelt.
Zum einen sollen 80 Prozent des anfallenden Mülls recycelt oder kompostiert werden. Roboter sollen den Müll übrigens wegbringen, sofern sie nicht gerade für Liefertätigkeiten eingesetzt werden – hoffentlich wäscht sich der Roboter die Greifarme, wenn er vom einen zum anderen Task wechselt. Schließlich soll alle Energie grün durch Solarpanele oder Erdwärme generiert werden.
Was die Stadt allerdings intelligent machen soll, ist ein ganzes Netzwerk an Sensoren, das von Infrastruktur und Bewohnern Daten sammelt. Und genau hier haken die größten Kritikpunkte ein.
„Das ist kein Plan für eine Smart City, das ist ein Angriff auf unsere Demokratie“, sagt etwa Jim Balsillie, früherer CEO von Blackberry. Alles, was Sidewalk Labs wolle, sei mehr Land, Macht und Kontrolle. Was sie als tollstes Viertel der Welt anpreisen, sei nichts als ein PR-Spiel – und das Bauvorhaben „ein Kolonosierungsexperiment“.
Er ist nicht der einzige Projektgegner mit großem Namen. Roger McNamee war einer der ersten Investoren in Facebook und Google. Und sogar er findet die geplanten Datensammlungen mehr als beunruhigend. „Egal, was Google anbietet, der Wert von Toronto kann nicht annähernd dem Wert entsprechen, den eure Stadt aufgibt“, sagte er zu Toronto Waterfront. Dabei handelt es sich um eine eigens eingerichtete staatliche Agentur, die das Projekt überwachen soll.
Und sogar hier gibt es Skepsis. Der Vorsitzende der Agentur, Stephen Diamond, sagt, es gebe „sehr unterschiedliche Perspektiven, was für Erfolg gebraucht wird“.
„Das ist kein Plan für eine Stadt“
Im Endeffekt braucht Sidewalk Labs die Zustimmung Toronto Waterfront bis spätestens Winter 2020. Bekommt es sie, wird vermutlich 2022 mit dem Bau begonnen – in Zusammenarbeit mit Regierungsbehörden und mehr als lokalen Unternehmen, die bisher noch nicht genannt, vielleicht noch gar nicht alle gefunden wurden. Dadurch sollen 44.000 Arbeitsplätze geschaffen und nach Fertigstellung jährlich rund drei Millionen Euro an Steuern, sowie ein Bruttoinlandsprodukt von 90 Millionen Euro generiert werden. Sidewalk Labs rechnet unter anderem mit hohen Einnahmen durch Vermietungen und den Verkauf von Wohnungen wie ganzen Häusern. Der derzeitige gesamte Baugrund wird mit über 2,5 Milliarden Euro bewertet.
Das sei natürlich alles beeindruckend, so Diamond, doch die Pläne würden noch viele wichtige Details nicht enthalten. Unter anderem macht sich die Agentur eben auch Sorgen um die Überwachung durch die Sensoren. Einige Mitglieder des Boards sind bereits aus ähnlichem Unmut zurückgetreten.
Aber es gibt auch positive Stimmen. Richard Florida etwa ist Professor an der School of Cities, Teil der University of Toronto. Er ist der Meinung, dass die smarte Stadt die bereits boomende Technologieindustrie weiter vorantreiben wird.
Gut möglich also, dass sich Toronto Waterfront überzeugen lässt – auch, weil Sidewalk Labs noch Spezifikationen zu den Datensammlungen nachreichen könnte. Und wenn dann weiterhin alles erfolgreich läuft, ist sogar eine Erweiterung möglich. Im Masterplan steckt bereits der Vorschlag für eine Vergrößerung der Smart City um 64 weitere Hektar. Vielleicht hatte Balsillie recht – sie wollen einfach mehr Land.
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