SOLID 06/2020 : Innovation der Innovation wegen oder für wirklichen Fortschritt?
Im Silicon Valley ist alles innovativ, disruptiv, künstlich intelligent und selbst fahrend - zumindest in der Außenwirkung. Genau diese Außenwirkung und Selbstvermarktung ist einer der Hauptgründe, warum hier jährlich Firmen Milliarden investieren, tausende Menschen hierher immigrieren und, ähnlich wie zu Zeiten des Gold-Rausches im 19. Jahrhundert, sich von der Magie der Bay Area verzaubern lassen.
So auch, wenn es um das Thema Digitalisierung in der Baubranche geht. Unzählige Startups sprießen aus dem Boden (siehe mein erster Stanford-Bericht „ConTech oder Die Selbstvermarktung von Software in der Baubranche“ in SOLID 02/2020) und das Investorengeld fließt. In diesem Artikel möchte ich nun auf Basis von Daten analysieren, welche dieser Innovationen tatsächlichen Mehrwert schaffen.
Die Grafik „Economic Influence and Implementation Level“ , die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit letztes Jahr erstellt habe, ist eine Aggregation aus tausenden Umfragen und Analysen, die zwei wichtige Faktoren zur Beurteilung von Innovationsbereichen zusammenführt: Erstens, in wie weit ein Innovationsfeld das Potenzial hat, wirtschaftlichen Einfluss zu haben und zweitens, in wie weit die Innovation schon in der Branche verbreitet ist („implementation level“).
Rein wirtschaftlich orientiert sollte man sich demzufolge an die Innovationsfelder halten, bei denen die hellgrauen Bereiche am größten sind: also Roboter, Vorfertigung, Echtzeit-Kollaboration, Apps, Smart Homes und alle Felder der Kategorie 5 (Daten). Zusätzlich kann man argumentieren, dass Innovationen mit hohem wirtschaftlichen Potenzial, aber geringer Marktdurchdringung (die dunkelgrauen Bereiche) die größte Hebelwirkung haben werden. Diese Betrachtungsweise führt dazu, dass Smart Homes und wieder Kategorie 5/Daten die spannendsten Bereiche für Innovation sind.
Auch vergleichbare Studien enden häufig mit derselben Conclusio: Zukunftsinnovationen in der Baubranche liegen in den Daten - und somit in der Digitalisierung. Nur (leider) ist Digitalisierung nicht gleich Digitalisierung. Und Digitalisierung rein der Digitalisierung wegen oder rein auf Grund der Außenwirkung wird auch nicht den gewünschten Erfolg bringen. Da wir leider alle keine Wahrsagekugel haben, ist alles mit Vorsicht zu genießen und meist eine Einschätzung und Interpretation der Gegenwart. Nach langjähriger Recherche in mehreren Ländern und der zuvor genannten Studie folgend sehe ich aktuell das meiste Potenzial für Digitalisierung in der Baubranche in den folgenden Bereichen:
Digitalisierung auf der Baustelle selbst
Facility Management und Konnektivität von Gebäudeautomation
Interpretation und Verwendung von Daten
Papierlose Baustelle, Roboter – quo vadis?
Solange wir nicht mehr Prozesse von der Baustelle in Fabriken verlegen (Thema Vorfertigung), ist eines der größten Potenziale der Digitalisierung immer noch die Baustelle selbst. Auch wenn wir darüber seit Jahren sprechen und uns in Elfenbeintürmen darüber die (studierten) Köpfe zerbrechen: ich plädiere immer wieder für einen „bottom up approach“ – also den einfachen Ansatz, Probleme des täglichen Bauablaufs auf der Baustelle zu optimieren und daher zu digitalisieren. In den letzten Jahren sind in dieser Richtung hunderte Software-Produkte auf den Markt gekommen – von großen Ansätzen wie ThinkProject und Procore (die Projektmanagement digitalisieren) hin zu „quick-wins“ wie Autodesk BIM360, Planradar, QR-Code-Apps oder Checklisten-Apps.
Auch wenn sich all das nicht nach großer Innovation anhört, so sind es doch die ersten Schritte von Papierprozessen hin zu digitaler Bauabwicklung. Genau diese Babyschritte sind es, die wir brauchen, um uns schrittweise dem Ziel der wirklich vernetzten Baustelle mit digitalen, mobilen MitarbeiterInnen zu nähern. Nebenbemerkung: Dies war noch nie wichtiger als gerade jetzt in und nach den Zeiten von COVID.
Die zuvor genannte Studie spricht ebenfalls vom hohen Potenzial von Robotern auf der Baustelle – auch hier tut sich in der Entwicklung einiges. Ich persönlich glaube eher an eine Zukunft, in der Roboter aktuelle Arbeitsabläufe unterstützen, und weniger an eine, in der wir Handwerker komplett ersetzen können oder wollen. Mögliche Anwendungsbereiche, die mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auch in ein paar Jahren auf österreichischen Baustellen zum Einsatz kommen könnten, sind zum Beispiel:
Roboter, die mittels Punktwolken den Baufortschritt und Qualitätsabweichungen analysieren
Roboter und Drohnen die helfen, physisch schwere oder schwer zugängliche Arbeiten zu erledigen
Roboter, die die grundlegendsten Standardarbeiten wie Ziegeln und Trockenbauarbeiten ausführen oder beschleunigen.
Ein Blick in die Zukunft zeigt uns ebenfalls mit hoher Sicherheit ein weiteres starkes Wachstum im Bereich von Softwarelösungen unter anderem zur Unterstützung und Vernetzung von neuen und verbesserten Maschinen und Roboter. Diese Anwendungen werden vernetzter, benutzerfreundlicher und damit „intelligenter“.
„Intelligenter“ werden auch unsere Gebäude und vor allem die technische Gebäudeausstattung. Je mehr wir die Haustechnik vernetzen und „digitalisieren“, desto nachhaltiger werden unsere Gebäude und - noch wichtiger - desto mehr lernen wir über die Bewohner/Nutzer dieser Gebäude. Wir können diese Informationen dann in zukünftige Planung, Angebot/Nachfrage-Analysen und Weiterentwicklung von technischer Gebäudeausstattung einfließen lassen.
„Zeig mir deine Daten und ich sag dir, wie du baust“
Womit ich auch zum letzten Punkt komme: Daten, Daten, Daten. Seit Jahren sammeln wir in der Baubranche Daten (wenn auch oft in sehr unstrukturierter Form), doch im Vergleich zu anderen Branchen verwenden wir diese Daten immer noch wenig bis nicht. BIM ist der Versuch, seitens Planung aus bisherigen Projekten zu lernen - aber Bau ist weit mehr als Planung. Je mehr wir Softwaretools in Bauprozessen und Facility Management einsetzen, desto mehr (strukturierte) Daten haben wir zur Verfügung, um aus unseren alten Projekten (und Fehlern!) zu lernen.
Big Data Analysen und künstliche Intelligenz sind schon längst keine reinen Modewörter mehr. Startups wie „Alice“ und „nplan“ verwenden Daten, um die Bauzeitplanung auf Basis von Altprojekten zu optimieren und Vorhersagen zu treffen. Mehr und mehr Wissenschaftler kooperieren eng mit der Industrie, um aus Daten nicht nur Analysen der Vergangenheit zu erstellen, sondern zukünftig tatsächlich Bauprojekten im hier und jetzt zu helfen.
Wenn die Fragestellung also lautet: „warum Digitalisierung“, dann ist meine (sicherlich subjektive) Antwort relativ einfach: um kurzfristig die Mitarbeiter auf den Baustellen zu unterstützen, mittelfristig strukturierte und bessere Daten zu generieren und langfristig die Baubranche mittels intelligenter Voraussagen nachhaltiger, effizienter und sicherer zu machen - aber eben nicht der Digitalisierung wegen, sondern zum Nutzen unserer MitarbeiterInnen und für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg unserer Unternehmen.