SOLID 09/2018 : Genua-Brückeneinsturz: die Klugheit danach
Schon wenige Stunden später haben es alle gewusst und erklären können. Die Brücke wäre schon lange gefährdet, man hätte sie so gar nicht bauen dürfen, die EU ist schuld, der private Betreiber ist schuld, bei den gleichzeitig stattfindenden Bauarbeitern seien Fehler passiert – alle möglichen Ursachen wurden genannt.
Seither wogt die Diskussion hin und her, ohne dass man ernsthaft weiter kommt. Und wie es so oft ist, stimmt wohl von allem ein bisschen etwas.
Damit kann man sich natürlich nicht zufrieden geben – schließlich sind Katastrophen dieser Art fast immer auch Weckrufe, die Dinge anders und besser zu machen, nur muss man eben wissen was.
Und es ist zwar schön für die Bauwirtschaft, dass „wir auf jeden Fall wissen, dass uns die Arbeit im Infrastrukturbereich nicht ausgehen wird“, wie Strabag-CEO Thomas Birtel im SOLID-Gespräch zum Thema (neben vielem anderen Interessanten, auf das wir später zurück kommen werden) sagte, – aber es braucht mehr als diese allgemeine Zukunftsperspektive. Schließlich geht es nicht nur um enorme Summen und materielle Verluste, sondern um Menschenleben.
Wir haben uns daher auf Spurensuche begeben und sind mit Technikern und Sachverständigen sowie wirtschaftlich Verantwortlichen in die Tiefe gegangen, um Fragen zu klären wie:
Ist dieser Brückentypus (die Morandi-Brücken im speziellen, aber Spannbetonbrücken überhaupt) besonders gefährdet und hätte man und wie hätte man das Unglück tatsächlich verhindern können?
Was kann und muss man bei Brücken dieser Art jetzt machen?
Wie viel an der Problematik ist italienisch und mit welchen Problem-Aspekten der Brückeninfrastruktur sehen sich auch Länder wie Deutschland konfrontiert?
Und nicht zuletzt: wie ist es denn in Österreich?
Was hat Mautern mit Morandi zu tun?
Beginnen wir gleich hierzulande. Nur wenige Tage nach der Katastrophe von Genua wurde die Donaubrücke bei Mautern (Nähe Krems, NÖ) ein Thema – und das nicht zum ersten Mal. Denn schon 2013 hatte sich die Brücke aufgrund der damals herrschenden Hitze einseitig gesenkt und war kurz gesperrt worden. Danach folgte eine Gewichtsbeschränkung auf 16 Tonnen und die Diskussion über einen möglichen Neubau.
Der Neubau wurde im Frühjahr 2018 verworfen, im Raum steht eine Sanierung des 1945 nach Kriegsbeschädigungen nicht optimal wieder hergestellten Südteils der Brücke. Dazu kommt, dass Denkmalschutz und Weltkulturerbe ein Thema sind. Derzeitiger Stand: es kommt eine Beschränkung des Gewichts bei der Überfahrt auf neun anstelle der bisherigen 16 Tonnen. Für die schwereren Schulbusse wird es eine Ausnahmegenehmigung geben.
Davon, dass das ausreicht, ist der zuständige niederösterreichische Straßenbaudirektor Josef Decker überzeugt. Schließlich werden die Brücken in Österreich und speziell die Brücke in Mautern regelmäßig und in der Tiefe überprüft.
Was hat das nun mit Morandi zu tun und was sagt uns das über den insgesamten Brückenzustand?
Nun, zum einen müssen Brücken nicht nach 50 oder 60 Jahren kaputt sein wie die in der ersten Hälfte der 1960er Jahre errichtete Morandi-Brücke in Genua. Die Donaubrücke in Mautern wurde nämlich in ihrer ursprünglichen Form bereits 1895 errichtet.
Allerdings – und das bringt uns beim bautechnischen Aspekt der Sache weiter: das Polcevera-Viadukt (so der offizielle Name) ist eine Spannbeton-Konstruktion, die Mauterner Brücke eine aus Stahl.
„Wäre die Morandi-Brücke aus Stahl, hätte man überhaupt kein Problem gehabt. Denn beim Stahl sieht man die Schwachstellen, bei Spannbeton nicht“, erklärt der Brückensachverständige, Statiker und Ziviltechniker Peter Spreitzer (Büro acht.) kurz und bündig.
Und er präzisiert auch bei den ebenfalls kursierenden Aussagen, die Brücken von Morandi seien an sich gefährlich konstruiert: „Ich finde, dass Morandi jetzt leider extrem schlecht weg kommt. Vom ingenieurmäßigen Grundkonzept ist das eine geniale Brücke.“
Dennoch, so meint er, würde diese Brücke heutzutage aufgrund der seither in Kraft getretenen Vorschriften ziemlich sicher nicht mehr so gebaut werden. Denn das statische Konzept sei zwar richtig und es gäbe berühmte auf dem selben statischen Konzept fußende Brücken wie die seit 1890 in Schottland stehende Forth Bridge – aber das Problem wäre eben der Spannbeton, bei dem die Zugglieder einbetoniert wurden und Probleme von außen teils nicht erkennbar sind. Spreitzer: „Zu dieser Zeit ist Spannbeton generell aufgekommen und war absolut in. Die Herstellungskosten waren günstig, man konnte große Spannweiten erzielen, aber es hat damals keiner wirklich auf die Lebensdauer geschaut, da war Morandi sicher nicht er einzige. Es hat damals auch für Betonbrücken noch keine Ermüdungsberechnungen gegeben.“
Vergleichbare Brücken in Österreich, etwa auf der Tauernautobahn, habe man auch alle nach maximal 50 Jahren sanieren müssen, zum Teil mittels externer Vorspannung.
Das Problem, dass z.B. bei einbetonierten Zuggliedern aus Stahl die Erkennung von Mängeln schwieriger ist, bringt Swietelsky-Geschäftsführer Karl Weidlinger auf einen delikaten Punkt: „Die in Österreich in Umfang und Zeitabstand klar geregelten Brückenprüfungen haben sich jedenfalls als zweckmäßig herausgestellt. Eine 100 %ige Sicherheit wird aber nie erreichbar sein, denn es gibt auch Schäden unterschiedlichster Natur, welche durch eine zerstörungsfreie Prüfung allein nicht feststellbar sind.
Und für den Fall einer ausgesprochenen Sperre hagelt es massive Kritik von allen Seiten, wie etwa bei der früheren Linzer Eisenbahnbrücke.“
Und man kann sich vorstellen bzw. wird es in den kommenden Wochen sehen, was ein Ausfall der Brücke in Genua verkehrstechnisch bedeutet.
Dennoch: die Techniker, die die Brücke überprüft haben (und das wurde sie regelmäßig – und zwar nicht nur von den privaten Betreibern der zum Benetton-Konzern gehörenden Atlantia-Tochter Autostrade; zur Untersuchungskommission gehörten auch staatliche Ingenieure), hätten eines wissen müssen, so Peter Spreitzer: „Sie müssten gewusst haben: wenn dieser bestimmte Bauteil reißt (gemeint ist die obere Schräge), habe ich kein redundantes System, mit dem ein anderer Bauteil zumindest den kompletten Zusammenbruch verhindern kann.“
Eine Lösung für die Zukunft sieht Spreitzer in einem erweiterten Zugang zum Brückenbau: „Es gibt auch bei den Bauweisen Modeerscheinungen. Ich glaube, es ist wichtig, immer jemanden Unabhängigen beizuziehen, der aus seiner Unabhängigkeit heraus die Dinge beurteilen kann.“
Bezüglich heute neu errichteter Spannbetonbrücken gibt ein weiterer Brückenexperte, Strabag-Ingenieurbau-Direktionsleiter Wolfgang Dittrich, Entwarnung: „Oft ist bei Straßenbrücken die durch Tausalz hervor gerufene Korrosion der Bewehrung das Problem, da in den früheren Jahrzehnten der notwendigen Betonüberdeckung zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Aber bei den heute neu errichteten Spannbetonbrücken ist das kein Thema mehr, da die Betonüberdeckung mehrere Zentimeter beträgt.“ Dazu kommen in vielen Fällen Beschichtungen.
Birtel: „Italien ist schon chaotisch“
Österreichs größte und Europas sechstgrößte Baufirma Strabag ist in Infrastrukturbauten in mehreren europäischen Ländern involviert und stößt dabei auch immer wieder auf das Problem verzögerter Entscheidungen.
Das war noch vor zwei bis drei Jahren in Deutschland exemplarisch so, als es bedingt durch die Auflösungen von Bauabteilungen nach der Krise von 2008 zwar sanierungsbedürftige Straßen und Brücken in Massen gab und auch das Geld für die Arbeit vorhanden war, aber niemand da war, der eine vernünftige Ausschreibung machen konnte.
Und das ist, meint Strabag-CEO Thomas Birtel, in Italien vor allem nach dem radikalen Regierungswechsel zur Cinque-Stelle/Lega-Koalition jetzt auch so. „Gerade im Moment finden sie ja kaum jemanden, der Entscheidungen trifft, weil die alle neu sind. Italien ist, so schön das Land ist, schon chaotisch, das muss man leider sagen.“ Die Strabag ist bei ihren nicht sehr zahlreichen italienischen Projekten ja auch immer wieder mit Problemen konfrontiert (wir haben auf solidbau.at berichtet).
Wie aber sieht es im vielerorts so gelobten Deutschland wirklich aus?
„Auch wenn Deutschland sich groß hinstellt und sagt: unsere Brücken sind sicher“, sagt etwa der Brückenexperte Spreitzer, „sind es (nach Zahlen des Bundesverkehrsministeriums, Anm.) immerhin drei Prozent der Brücken, die im tiefroten Bereich sind und das heißt: hier muss man umgehend etwas tun.“
Drei Prozent – das mag nicht nach viel klingen, aber drei Prozent der knapp 50.000 deutschen Brücken sind 1.500 und damit (man stelle sich das auf dem Aufmacher der Bild-Zeitung vor) eine bedrohliche Anzahl.
Strabag-Chef Birtel ist dennoch überzeugt, dass das Thema Instandhaltung in Deutschland und anderen – wie er sie nennt – reifen Märkten letztlich funktioniert, auch weil „das Thema der Instandhaltung überwiegend ein öffentliches ist“.
Das prominenteste Beispiel einer vielleicht Genua vergleichbar neuralgischen Brücke ist die A1-Rheinbrücke in Leverkusen, bei der man bis zur für 2024 geplanten Eröffnung des Neubaus (für den die Porr Deutschland den Auftrag bekommen hat) mit einer sehr schwierigen Situation zu kämpfen hat. Birtel: „Ich war selber kürzlich dort – es ist ein Wahnsinnsaufwand, der da in der Zwischenzeit betrieben wird, um die LKW fernzuhalten. Es gibt Schranken wie an der Grenze, um den Verkehr abzuleiten, und ganze Batterien von Radarkameras, um die Geschwindigkeit des übrigen Verkehrs zu drosseln. Wenn man erkennt, dass ein Zustand kritisch wird, passiert das also offensichtlich so rechtzeitig, dass man noch eingreifen kann.“
Nachsatz: „Gerade in Deutschland sind die Brücken ja unter völlig anderen Belastungsannahmen errichtet worden. Der Verkehr hat sowieso zugenommen und durch die Wiedervereinigung sind alle Berechnungen völlig obsolet geworden. Dazu kommen die neuen LKW und Gigaliner, die wesentlich schwerer sind.“
Privat oder Staat?
Ein Thema, das sich bedingt durch die Katastrophe von Genua wieder ganz weit in der Wahrnehmung nach vorne gedrängt hat, ist die richtige Aufgabenverteilung zwischen Privaten und dem Staat bei Errichtung und Wartung einer Brücke.
Habau-Geschäftsführer Hubert Wetschnig sieht hier allerdings weniger große Unterschiede, als sie in der öffentlichen Diskussion gern gemacht werden: „Der private Erhalter und Betreiber unterliegt denselben Regularien betreffend Brückensicherheit wie die öffentliche Hand. Die Prüfungen müssen genauso wie beim öffentlichen Auftraggeber durch speziell befugte und unabhängige Experten durchgeführt werden. Sollten sich aus der Überprüfung notwendige Sanierungsmaßnahmen ergeben, müssen diese natürlich umgehend durchgeführt werden. Die Angst, dass privat erhaltene Brücken gefährlicher wären, ist daher vollkommen unbegründet.“
Wetschnig sieht einen Vorteil für die Privaten, der für PPP-Projekte nicht unerheblich ist: „Im Hinblick auf die wirtschaftliche Optimierung während der Lebensdauer kann der Private die von den Experten als notwendig erachteten Sanierungsarbeiten umgehend durchführen. Durch regelmäßige Wartung (z.B. sofortiges Verschließen von offenen Fugen) können aufwändigere Instandsetzungsarbeiten vermieden und dauerhaft Geld gespart werden.
Der öffentliche Erhalter hingegen ist auf die budgetäre Bedeckung der regelmäßigen Instandhaltungsmaßnahmen seitens der Politik angewiesen. Dies führt bei knappen oder anders zugeteilten Budgetmitteln zu schlechteren Zustandsnoten und auf lange Sicht zu insgesamt höheren Kosten.“
Lösungsansatz Künstliche Intelligenz
Auch die Strabag ist in immer mehr PPP-Projekten engagiert, bei denen sie auch die Wartung von Straßenstücken samt der Brücken mit übernommen hat – derzeit vor allem in Ungarn und in Polen. Strabag-CEO Thomas Birtel schaut sich daher „die Möglichkeiten bei der Überprüfung und Wartung sehr genau“ an. Es gibt, sagt er, da auch einen interessanten Digitalisierungsaspekt.
„Wo die Bauwirtschaft ja noch stark hinterherhinkt, ist die Anwendung von künstlicher Intelligenz. Derzeit sprechen wir ja über die Anwendung von digitalen Tools, um Bauprozesse besser steuern zu können. Aber ich habe gerade neulich eines der wenigen beeindruckenden Beispiele kennen gelernt, wo man beginnt, mit KI auch Bauprozesse zu erfassen – und das war genau die Mängelerfassung bei Brückenbauwerken. Was wir ja bereits machen, sind Messungen mit Laserscans von Drohnen aus, da sind wir zusammen mit der Fraunhofer Gesellschaft schon recht weit. Aber man kann mit diesen Drohnen und hochauflösenden Kameras auch Brücken befliegen – und die künstliche Intelligenz liegt im Fotoauswertungsprogramm. Damit kann man sehr viel schneller und präziser das, was im Foto abgebildet ist, in bestimmte Kategorien einordnen. Und dieses Programm lernt dann auch noch dazu und verbessert damit Zuordnung und damit Wartungsnotwendigkeiten.“