SOLID Plus - Österreich : Einstürzende Gründerzeithäuser: Der große Pfusch am Altbau
Aktive Mitgliedschaft erforderlich
Das WEKA PRIME Digital-Jahresabo gewährt Ihnen exklusive Vorteile. Jetzt WEKA PRIME Mitglied werden!
Sie haben bereits eine PRIME Mitgliedschaft?
Bitte melden Sie sich hier an.
Die Wiener Gründerzeithäuser sind heute Denkmal und begehrter Wohnort zugleich. Einerseits sind die Gebäude des Historismus, wie dieser Baustil eigentlich heißt, lebendige Zeugen eines beispiellosen Aufstiegs, den die Haupt- und Residenzstadt etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Andererseits sind die meisten der rund 30.000 Gründerzeithäuser der Stadt, zumindest innerhalb des Gürtels, so großzügig und klar strukturiert, dass ihnen in der Beliebtheit selbst aufwändig und teuer errichtete Neubauten nicht das Wasser reichen können.
Auch zur Zeit des Kaisers blühte das Spekulantenwesen, wie ein Blick in die Geschichtsbücher beweist – trotzdem schien damals das Bauen für Menschen, nicht für Investoren die Devise gewesen zu sein.
Ansturm der Finanzfirmen
Genau wegen ihrer besonderen Qualitäten ist in den letzten Jahren, parallel zum Ansturm aufs "Betongold" am Finanzmarkt, die Nachfrage nach Gründerzeithäusern wieder extrem gestiegen. Letztes Jahr waren knapp 75 Prozent der Käufer von Wiener Zinshäusern Firmen und Versicherungen. Bei den Finanzfirmen sind im Moment gerade die äußeren Bezirke besonders begehrt. Während Altbauten innerhalb des Gürtels weitgehend fertig saniert sind, lassen sich außerhalb des Gürtels noch beträchtliche Renditen generieren, so das Kalkül. Denn in Bezirken wie Favoriten oder Rudolfsheim-Fünfhaus sind viele Gebäude kaum saniert, die Kaufkraft bescheiden und die Mieten vergleichsweise preiswert.
Die Rechnung der Investoren scheint daher zu sein: Kaufen, möglichst billig sanieren und so teuer wie möglich weiterverkaufen. Oder behalten und versuchen, möglichst bald die Miete nach oben zu schrauben. In Hintergrundgesprächen gegenüber SOLID reden namhafte österreichische Firmen ganz offen vom aktiven Prozess der "Entmietung".
Einstürze "kein Zufall"
Das geht nicht immer gut – unter anderem im Umgang mit der Bausubstanz. Allein seit dem vergangenen Dezember kam es in Wien drei Mal zum Einsturz eines Gründerzeithauses. Der jüngste davon ereignete sich erst vor wenigen Wochen im März. Ein viertes Haus wurde im Dezember wegen Rissen im Mauerwerk vorübergehend evakuiert. Damals, drei Tage vor Weihnachten, stellten die Wiener Linien einen Bus zur Verfügung, damit die Bewohner nicht auf der Straße ausharren müssen, bis Ersatzquartiere organisiert sind.
Es gibt Fachleute, die sagen, dass diese Häufung kein Zufall mehr sein kann. In der öffentlichen Diskussion und in den Medien kursiert die These, dass hier Eigentümer gezielt für den Schaden sorgen, um eingesessene Mieter rauswerfen zu können. Danach könne man, so die Annahme weiter, den Altbau ganz abreißen und ein neues Gebäude errichten, das deutlich mehr Rendite bringt. Bei näherer Betrachtung steht nicht hinter jedem Einsturz die böse Absicht. Allerdings kommen hier tatsächlich gleich mehrere Faktoren zusammen – allen voran der Pfusch am Bau.
Einsturz I: Pfusch am Liftschacht
Die Fälle im einzelnen: Im Dezember bemerkten Bewohner des Hauses in der äußeren Mariahilfer Straße 178 Risse in den Wänden und verständigten die Feuerwehr – keine Minute zu früh. Unmittelbar darauf stürzte ein Teil der Außenmauer ein. "Man kann in die Stiege hineinsehen wie in ein Puppenhaus", so ein Sprecher der Feuerwehr damals. Die Umgebung wurde großräumig abgesperrt. Nach Überprüfungen kennt die Baupolizei heute die Ursache: Es waren Grabungsarbeiten an einem Liftschacht. "Hier ist sicher nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen worden", sagt Hannes Kirschner, Leiter der Stabstelle in der Magistratsabteilung 37, gegenüber SOLID. "Man hätte die Baugrube entweder gegen Regen absichern oder die Unterfangung zügig mit einem entsprechenden Konzept durchführen müssen. So aber ist durch den Regen ein Grundbruch passiert, das Mauerwerk stürzte ein." Die Baupolizei hat die Baufirma und den zuständigen Bauingenieur angezeigt.
Alte Fundamente seien grundsätzlich anders gebaut, sagt der Wiener Bauträger und Bauträgersprecher Hans Jörg Ulreich: "Bei Gründerzeithäusern steht der Ziegel direkt in der Erde." Ulreich vergleicht die Bausubstanz mit einem Stück Würfelzucker im Kaffee: Weil vor rund einem Jahrhundert nicht isoliert wurde, ist die Feuchtigkeit bei Wänden und Böden im Keller und Erdgeschoß häufig höher als bei einem Neubau – ein Nachteil, der sich mit Fachkenntnissen bei einer Sanierung sehr wohl beheben lässt. Der Rückschluss allerdings, der sich daraus auf den Einsturz in der Mariahilfer Straße ziehen lässt: Sanierungen wie bei einem modernen Stahlbetonbau sind grob fahrlässig.
Evakuierung: "Glasspione" zur Beobachtung
Glimpflich ausgegangen ist der Zwischenfall in Wien-Penzing wenige Tage später. Wegen Rissen in den Mauern eines Hauses in der Kienmayerstraße wurden ebenfalls die Bewohner vorübergehend evakuiert. Obwohl der vordere Trakt inzwischen wieder zugänglich ist, laufen hier die Ermittlungen weiter. An den Wänden wurden "Glasspione" angebracht, um Bewegungen des Mauerwerks zu beobachten.
Einsturz II: Pfusch im Erdgeschoss
Ein weiterer Fall ereignete sich am 21. Dezember in der Quellenstraße in Wien-Favoriten. Auch hier alarmierten Bewohner die Feuerwehr, weil sich Teile des Hauses plötzlich abgesenkt und die Mauern gefährlich geneigt hatten – Fenster und Türen ließen sich nicht mehr schließen. Auch hier fanden gerade Umbauarbeiten statt. Baupolizeiexperte Kirschner zu den Ergebnissen der Überprüfung: "Es wurde ein großer schwerer Stahlträger eingebaut und dann zu früh die Unterstellung weggenommen. Der Beton war noch nicht ausreichend fest." Sofort nach der Evakuierung startete die Feuerwehr mit dem Einbau von Pölzungen. Um den drohenden Einsturz zu verhindern, wurden tragende Elemente des Hauses mit Rohren und Stahlträgern gestützt. Zuvor gab es in der Quellenstraße, anders als in der Mariahilfer Straße, keine Umbauten im Untergeschoß – das stabile alte Fundament wurde also nicht zerstört. So konnten die Pölzungen auf den tragfähigen Bauteilen im Keller aufsetzen.
Einsturz III: Illegale Umbauten
Der jüngste Einsturz schließlich passierte vor wenigen Wochen: Teile eines wegen Bauarbeiten leer stehenden Hauses in der Grimmgasse, ebenfalls im 15. Bezirk, stürzten in den Innenhof. Wegen einer möglichen akuten Einsturzgefahr wurden wieder die Bewohner der beiden benachbarten Häuser in Sicherheit gebracht. Am Nachmittag durften sie nach Entwarnung zurück in ihre Wohnungen, derzeit führt eine Spezialfirma Sicherungsarbeiten durch. Wie die "Presse" berichtet, hatte der Besitzer des eingestürzten Hauses zuvor Wände und Decken entfernt, um ein neues Dachgeschoss und Kfz-Plätze zu errichten – und zwar ohne Genehmigung der Baupolizei. "Dieser Umbau war sehr mangelhaft", bestätigt Hannes Kirschner.
Unkenntnis der Bausubstanz
Ist die Häufung der Einstürze in den letzten Monaten reiner Zufall? Nein, sagt Andreas Kolbitsch, Studiendekan der Fakultät für Bauingenieurwesen an der TU Wien. "Die Häufung der Schadensfälle ist nicht nur seit Dezember, sondern über mehrere Jahre zu beobachten. Zwar kann man sie aufgrund der großen Anzahl der Gründerzeitobjekte in Wien als nicht statistisch signifikant bezeichnen – diese Häufung ist dennoch auffallend."
Tatsächlich lassen sich in allen Fällen Parallelen erkennen. Alle Einstürze passierten im Zuge von Bauarbeiten – und bei allen machten die beauftragten Baufirmen den Eindruck, als hätten sie praktisch keine Ahnung von der spezifischen Bausubstanz der Gründerzeit und dem dafür notwendigen Know-how. Einen Aspekt hebt hier Kolbitsch besonders hervor: "Die Verbindung der Holzdecken mit den tragenden Wänden ist bei diesen Gebäuden nur punktuell über Metallschließen erfolgt, da die heute vorgeschriebenen Ringanker in dieser Bauperiode nicht ausgeführt wurden." Auch Hannes Kirschner von der Baupolizei sagt: "Die Standfestigkeit ist nicht zu vergleichen mit heutigen Bauwerken. Dann kann es passieren, dass eine schlampige Baufirma kommt und morsche Holzelemente und durchgerostete Stahlteile vorfindet." Ergebnis: siehe oben.
Die Subfirmen als Faktor
Damit zu einem weiteren zentralen Aspekt: Den beteiligten Baufirmen. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass gerade im Wiener Wohnbau die große Mehrheit der Arbeiter auf den Baustellen aus Osteuropa kommt. Jüngst gab es konkrete Bestrebungen, den genauen Prozentsatz der Aufträge zu ermitteln, der auf ausländische Subfirmen entfällt – doch wie SOLID in Erfahrung bringen konnte, haben bedeutende Akteure der Baubranche genau diesen Vorstoß verhindert. Auch Hannes Kirschner, der damit täglich zu tun hat, verweist bei der Frage nach der Rolle der berüchtigten Sub-Subfirmen an zuständige Stellen in der Politik. Ein anderer Experte, der nicht genannt werden will, bestätigt den sehr hohen Prozentsatz von Bautrupps aus den neuen EU-Ländern, meint aber: "Die Nationalität ist weniger entscheidend. Denn ein alter Maurer aus Polen wird wissen, was er tut. Nur ist es eher die Ausnahme, dass hier echte Fachkräfte beschäftigt werden." Dann betont der Experte einen Aspekt, der ihm beim Thema Pfusch viel wichtiger erscheint: "Der treibende Faktor ist der enorme Zeitdruck und der Kostendruck, unter dem diese Baufirmen stehen."
"In Einzelfällen" Absicht hinter dem Verfall
Und für den Kostendruck wiederum ist niemand anderes verantwortlich als die Auftraggeber selbst. Neben ihrer Entscheidung für Billigstbieter wird in der Öffentlichkeit zunehmend auch der ganz offensichtliche Renditehunger hinter den Spekulationen und Sanierungen thematisiert. Werden die Gründerzeithäuser mutwillig dem Verfall ausgesetzt, um sie dann abreissen zu können? Zwar dürfe man hier nicht verallgemeinern, sagt Andreas Kolbitsch – fügt dann jedoch hinzu: "In einzelnen Fällen wurden notwendige Substanzverbesserungen an der Tragstruktur nicht oder sehr spät durchgeführt." In diesem Zusammenhang verweist der TU-Hochbauexperte auch auf das geltende Mietrecht: "Über Jahrzehnte war auf Grund der begrenzten Mieteinnahmen eine nachhaltige Instandhaltung bei vielen derartigen Objekten wirtschaftlich nicht möglich."
Nachdem die Wiener Grünen den Wohnbau zu einem ihrer zentralen Themen gemacht haben, wird Planungsstadträtig Maria Vassilakou hier deutlich direkter. Gegenüber der "Presse" meint sie: "Aus Armut hat noch niemand ein Haus abreissen lassen. Es steckt immer die Absicht zu mehr Geld dahinter. Egal, ob es der kleine Profit ist oder die große Profitgier." Zusätzlich zu den schärferen Kontrollen, die die Baupolizei wegen der gehäuften Schadensfälle inzwischen angekündigt hat, will Vassilakou deshalb den Abriss ganzer Gründerzeithäuser in Zukunft deutlich erschweren.
Vassilakou gegen "technische Abbruchreife"
Heute ist ein Abriss innerhalb einer Schutzzone ganz legal möglich, wenn "technische Abbruchreife" nachgewiesen ist – also eine Sanierung wirtschaftlich nicht mehr darstellbar. Genau das sei in mehreren Fällen geschehen, sagt Maria Vassilakou und plädiert dafür, die Option der technischen Abbruchreife völlig zu streichen. Allerdings: Alle seit Dezember eingestürzten Häuser standen außerhalb von Schutzzonen – Leerstand vorausgesetzt, hätten sie die Besitzer auch ohne jede Erlaubnis abreissen können. Deshalb schlägt die Grünen-Politikerin zweitens vor, eine verpflichtende Frist zwischen Meldung zum Abriss und Genehmigung durch die MA 19 einzuführen. Das Magistrat solle dann binnen drei Monaten eine Entscheidung vorlegen.
Bei beiden Vorschlägen wäre eine Änderung des Wiener Baurechts notwendig. Eine im Sommer 2014 beschlossene Änderung verspricht dagegen einen viel besseren Schutz für die Gründerzeithäuser: Vorgesehen ist ein Bauwerksbuch für Eigentümer bei einem Neubau oder größeren Umbauten, das ein Ziviltechniker erstellt – für Andreas Kolbitsch "eine sehr wichtige Neuerung, die die Bedeutung des konstruktiven Aspekts der Bauwerkserhaltung hervorhebt."
Trotz Pfusch: Eine Bausubstanz für Jahrhunderte
Gründerzeithäuser haben zwei Weltkriege und mehr als ein Jahrhundert überdauert – an eine Nutzung im 21. Jahrhundert hat anno 1880 wohl kaum jemand gedacht. Neigt sich die zeitliche Kapazität dieser Bausubstanz dem Ende zu? Hannes Kirschner vergleicht die Gebäude mit einem Auto: "Rostflecken bei einem gepflegten alten Mercedes sind kein Problem. Wenn darauf geachtet wird, dass im Haus keine Feuchtigkeit ist, dass die Fassade verputzt und das Dach dicht ist, wenn keine Bäder illegal eingebaut und keine Pfeiler durch Installateure und Elektriker eingestemmt werden, dann geht das noch Jahrzehnte weiter." Dann verweist der Baupolizeiexperte auf Schloss Schönbrunn – "das steht auch schon länger." In seiner jetzigen Form nämlich 272 Jahre, um genau zu sein.
Peter Martens