Reportage : Eine maßgeschneiderte Schachtel aus Glas

Zwei Stiere begrüßen jeden Besucher am Eingang zum Wiener Stadtteil St. Marx. In Stein gemeißelte Muskelberge, voller Dynamik und Kraft. Einst haben sie die Einfahrt zum riesigen Areal dominiert, heute stehen sie etwas verloren auf ihren haushohen Sockeln herum. Nach mehr als hundert Jahren Betrieb wurde der Schlachthof südöstlich der Wiener Innenstadt Ende der 1980er-Jahre stillgelegt.
Gegenwärtig prägen weitläufige Brachflächen das Bild, leere Asphaltfelder und viel Raum zwischen den noch verbliebenen Gebäuden. Man sieht einige Rohbauten, einige Tiefbaustellen, dazwischen ehrwürdige Gemäuer aus dunkelrotem Backstein und Lieferfahrzeuge. Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, wie viel Dynamik in dem Viertel auch und gerade heute steckt.
St. Marx ist dabei, eine grundlegende Metamorphose durchzumachen: Dort, wo in den vergangenen Jahrhunderten ein wichtiger Wiener Industrieort war, soll morgen ein Hightech-Standort der Zukunft sein. Früher wurden hier bis zu 8000 Tiere am Tag geschlachtet und verarbeitet, heute forschen in der Nachbarschaft Wissenschaftler und Studenten in den Bereichen Medizintechnik, Biotechnologie, Pharma. TV-Studios drehen Fernsehsendungen, IT-Firmen entwerfen neue Softwareprodukte.
Bereits in der Gegenwart treffen denkmalgeschützte Ziegelbauten auf technoide Gebäude, Glasfassaden und Grünanlagen vom Reißbrett. Weitere futuristische Formen werden bald das Bild ergänzen. Einem Gebäude davon kommt in dem weitläufigen Komplex eine besondere Bedeutung zu – die steinernen Zeugen des Industriezeitalters und die Designbauten der Zukunft miteinander zu verbinden, eine Brücke zu bauen zwischen vorgestern und übermorgen. Diese Rolle übernimmt die Marxbox Vienna.
Konkrete Ziele als Vorgabe
Das war die stadtplanerische Perspektive auf das außergewöhnliche Projekt. Die eigentliche Aufgabe ist sehr viel konkreter: Der Bau soll künftig etwa 450 Menschen einen Arbeitsplatz bieten, unter seinem Dach werden sich Labors, Büros und eine Tiefgarage befinden – und Platz für grüne Oasen auf den obersten Stockwerken. Die Wiener Stadtentwicklungsgesellschaft WSE und die S+B Gruppe zeichnen gemeinsam dafür verantwortlich. Als Tochter der Wien Holding hält die WSE 40 Prozent, der private Bauträger S+B 60 Prozent. Seit Herbst 2008 laufen die Arbeiten nach dem Entwurf des Architekturbüros Georg Petrovic & Partner. Ende 2010 erfolgt die Fertigstellung, das Investitionsvolumen beträgt etwa 14 Millionen Euro.
Das Gebäude ist in zwei Untergeschosse, ein Erdgeschoss und sechs Obergeschosse aufgeteilt. Die vermietbare Fläche beträgt rund 6.500 Quadratmeter. Das zweite Untergeschoss ist für die Haustechnik reserviert, das erste für eine Tiefgarage mit 36 Stellplätzen. Im Erdgeschoss wird sich neben der Einfahrt in die Tiefgarage eine elegante Eingangslobby befinden, zusätzlich stehen nebenan sowie im ersten und zweiten Stock Laborräume bereit. Die zwei Stockwerke darüber sollen als Büros dienen. Das fünfte und das sechste Obergeschoss sind als Dachgeschosse konzipiert. Dazu befinden sich hier nach Fertigstellung vorgelagerte Terrassen, die einen Blick von oben über das gesamte Viertel bieten.
200 Jahre Baugeschichte überbrücken
Die Herausforderungen des Projekts beginnen eigentlich schon beim sogenannten Fahnengrundstück. Seine Fläche beträgt 1.418 Quadratmeter, sie ist knapp 14 Meter breit, aber mehr als 100 Meter lang und musste komplett bebaut werden. Das Grundstück wird dazu an der kurzen, nordöstlichen Seite von einem kleinen Gebäude direkt neben dem Stiertor eingegrenzt. Es ist das ehemalige Portierhäuschen, dessen Backsteinfassade ein authentischer Zeuge der vergangenen Zeiten ist, und das daher unter Denkmalschutz steht. Für die Architekten und Bauingenieure der Marxbox lautete also die Aufgabe, den äußerst knappen Raum optimal auszunutzen, ohne das Häuschen zu berühren.
Wie das gelöst wurde, erklärt Karin Strini, die als Projektleiterin bei der WSE die Entwicklung maßgeblich mitbetreut: "Das Portierhäuschen und die Stiere stehen für sich selber da. Gemeinsam bilden sie eine Einheit und stehen im starken Kontrast zur Marxbox. Es ging also darum, das kleine Gebäude frei zu spielen, und ihm gleichzeitig einen Rahmen zu geben. Petrovic und Partner schaffen mit ihrem Entwurf der Marxbox eine Brücke zwischen einem 200 Jahre alten Altbau und einem futuristischen Neubau."
Dieser Entwurf sieht eine auf der nordöstlichen Seite auskragende Bauform vor, die einst dank der Glasfassade filigran erscheinen wird. In ihrer fertigen Form wirkt die Marxbox so, als würde sie sich schützend über das ehrwürdige Backsteinhäuschen beugen. Doch gegenwärtig bietet der Anblick ein starkes optisches Ungleichgewicht zwischen dem voluminösen, weit ausladenden Beton-Rohbau und dem darunter kauernden Häuschen. Das Gebäude wird nach den Vorgaben des Denkmalschutzes komplett saniert.
Verbot von Vibrationen beim Tiefbau
Mit der Errichtung des Rohbaus der Marxbox ist die Firma Swietelsky GmbH betraut, rund 40 Beschäftigte sind derzeit an der Baustelle aktiv. Die Arbeiten sind weit fortgeschritten: Ende Oktober fand die Dachgleiche statt, voraussichtlich Ende November werden die zwei Kräne abgebaut.
Zuvor musste die Firma Bauer beim Spezialtiefbau eine Aufgabe lösen, wie sie im Tiefbau nicht allzu oft vorkommt: Das Fundament so erschütterungsarm wie nur möglich zu errichten, weil die IT-Unternehmen in unmittelbarer Nachbarschaft hochempfindliche Großserver im Dauerbetrieb laufen haben, und auch das Filmstudio direkt gegenüber der Marxbox Equipment in seinen Räumen stehen hat, das besser nicht anfangen sollte zu vibrieren. Mit 20 Mitarbeitern vor Ort lösten das die Spezialisten von Bauer mit besonderen Bohrpfählen: Nach der Bohrung wurden die Öffnungen direkt über die Bohrspitze mit Beton ausgefüllt.
Die Ingenieure und Arbeiter von Swietelsky sind mit Aufgaben konfrontiert, die über die Errichtung eines "gewöhnlichen" Rohbaus hinausgehen: Sie müssen die Voraussetzungen schaffen für ein Gebäude, dessen Innenleben in die Zukunft weist, denn die Marxbox ist gespickt mit haustechnischen Raffinessen. Hier werden – wie in anderen modernen Gewerbebauten auch – die Grundrisse der Büros modular gestaltet, so dass eine hohe Flexibilität in der Nutzung möglich wird. Die Anforderungen an die technischen Voraussetzungen eines Laborbaus sind dagegen etwa drei Mal so hoch wie bei einem Bürobau.
Vollgespickt mit Raffinessen
Doch die verborgenen Charakteristika des Hauses gehen darüber hinaus. Das Gebäude wird nach seiner Errichtung nah an die Green-Building-Standards herankommen und durch spezielles Hightech energieeffizient und klimaschonend sein. Dazu trägt zum einen die Baukernaktivierung bei, wie Karin Strini erläutert: "Die Betonkernaktivierung ist viel effektiver als eine normale Raumheizung oder auch eine Fußbodenheizung, das System als Ganzes ist viel schneller in der Reaktionszeit." Das funktioniert so: Je nach Jahreszeit und Außentemperatur heizen oder kühlen Aggregate im untersten Stock Wasser, das seine Temperatur dann über Leitungen in den Böden und Wänden an alle Räume weitergibt.
Ein weiterer Punkt der Haustechnik ist die Raumbelüftung. Die Räume werden zwar mechanisch belüftet. Doch anders als in einem herkömmlichen Hochhaus müssen die Wissenschaftler in der Marxbox nicht hinter einer dicken, fixierten Glasscheibe brüten und auf einen frischen Luftzug, einen direkten Blick nach draussen verzichten: Wer will, kann die Fenster in allen Räumen manuell öffnen – ein Vorteil, der sicher nicht nur Beschäftigten in einem Labor entgegenkommt.
Jeder, der schon mal im Sommer aus einer alten Regionalbahn in einen vollklimatisierten Schnellzug umgestiegen ist, kennt das Bedürfnis. Zwischen den Fensterscheiben ist ein Sonnenschutz untergebracht, der vollautomatisch auf die Sonneneinstrahlung reagiert und so eine Überhitzung der Räume verhindert. Gleichzeitig sind auch die Jalousien individuell verstellbar. Weil sie vom Glas geschützt sind, kann ihnen Unwetter nichts anhaben.
Auch außen zeigt sich der technische Vorsprung. Die Farben der Fassade bestehen aus unterschiedlich getönten Rechtecken, die wie riesige Pixelmuster aussehen. Das erzeugt eine flirrende, dynamische und futuristische Optik, erinnert aber auch an einen überdimensionalen Generator unter Starkstrom. Doch die Fassade selbst ist mit einer Spiegelfolie beschichtet. Während eine Glasfassade von der Straße aus üblicherweise dunkel erscheint, nimmt die Marxbox bei gutem Wetter dank ihrer Spiegelfolie die Farbe des Himmels an.
St. Marx – ein durchgeplantes Viertel
Mit den baulichen Details, aber auch mit seiner künftigen Nutzung fügt sich die Marxbox perfekt in das neue Viertel ein – entsprechend seiner Funktion als Brücke zwischen Alt und Neu, zwischen dem Eingangsbereich und dem weitläufigen Gelände. Die Technologie-Immobilie ist speziell für Mieter aus dem Bereich der sogenannten Life Sciences entworfen. Das passt zu dem Standort: Auf dem Gelände des Schlachthofs soll bald ein großer Standort für Forschung, Medien und IT entstehen. Das Vienna Biocenter VBC befindet sich bereits in unmittelbarer Nachbarschaft zur Marxbox. Heute forschen hier im universitären und privatwirtschaftlichen Rahmen über 1000 Wissenschaftler und 700 Studierende. Und die Nachfrage nach geeigneten Räumen steigt weiter – das VBC stößt schon in der Gegenwart an seine Grenzen.
Die künftigen Nutzer und Nachbarn der Marxbox kommen jedoch nicht nur aus der Biotechnologie, Pharmazie oder Medizintechnik. Ein Haus aus den Zeiten des Schlachthofs trägt heute den Namen Media Quarter Marx (MQM) und beherbergt mehrere Filmstudios, von denen aus zum Beispiel die TV-Sendung "Willkommen Österreich" gesendet wird. Ein Gebäude namens Solaris steht im rechten Winkel zur Marxbox. Es wurde 2008 fertiggestellt, hat 9.000 Quadratmeter Labor- und Bürofläche und ist bereits komplett vermietet. Schließlich liegt schräg gegenüber der riesige, abgestufte Bau des T-Mobile Centers, mit dessen Errichtung 2004 der Startschuss für die komplette Neuentwicklung des Areals gefallen ist.
Die Gründe der Partnerschaft
"Allein dieses Gebäude hat die Mietfläche eines ganzen Stadtteils", sagt Karin Strini von der WSE. Die Projektleiterin erklärt die Ziele, die hinter der grundlegenden Umwandlung des Stadtteils St. Marx stehen: Eine veraltete Industrieanlage auf teurem, zentrumsnahen Grund einzutauschen gegen einen Standort, der Forschung und Entwicklung anzieht – und damit hochwertige Arbeitsplätze.
Damit begründe sich auch die Partnerschaft der WSE mit der privaten S+B Gruppe, so Strini. "Eine PPP, also 'Private Public Partnership', ist eine der effizientesten Formen der Stadtentwicklung. Wenn man einfach Liegenschaften verkauft, hat man keinen Einfluss mehr darauf, was dann passiert. Doch unsere Aufgabe ist es, die Wirtschaft zu fördern und die Stadt zu entwickeln – und nicht, einzelne Bauprojekte zu leiten. Also holen wir einen privaten Investor und sein Know-How dazu, behalten jedoch einen Einfluss auf das Projekt."
Peter Szlavik ist bei der S+B Projektleiter für Österreich. Auch er betont die langfristige Partnerschaft anstelle kurzfristiger Investoreninteressen: "Unser Ziel ist es nicht, einfach Grund zu kaufen und etwas hinzustellen. Wir sehen uns als Partner der Stadt. Die Marxbox ist nur eines von mehreren Projekten, die wir in Wien gerade entwickeln und in den nächsten drei bis fünf Jahren fertigstellen werden." Die vom Vorarlberger Unternehmer Günter Schertler und dem Wiener Generalplaner Alfred Michael Beck gegründete Gruppe ist heute eine Aktiengesellschaft. S+B ist als Bauträger und Generalunternehmer neben Wien auch in München, Prag oder Budapest tätig.
Streng bewachte Telefonkabel
Eine Partnerschaft hat allerdings nicht nur stadtplanerische Vorteile – sondern auch ganz konkrete. Eine Tiefgarage in den Ausmaßen des Gebäudes wäre so schmal, dass die Autos dort nicht einmal wenden könnten. Also beantragten die Projektleiter die Sonderbewilligung, die Straße als sogenanntes öffentliches Gut unterbauen zu dürfen – und bekamen sie. Doch bevor die Straße aufgerissen werden konnte, mussten sämtliche bereits in der Erde eingebetteten Leitungen um mehrere Meter nach Süden verlegt werden.
Darunter waren Stromkabel, die einen ganzen Stadtteil mit Strom versorgen, Telefonkabel und Glasfaserleitungen, deren Beschädigung für das T-Mobile Center wie für die IT-Firmen eine absolute Katastrophe bedeutet hätte. Während also die Straße vor der Marxbox unterbaut wurde, lagen die Leitungen einige Meter weiter an der Oberfläche. Nachts hatte ein eigens engagierter Wachdienst die Aufgabe, zu schauen, dass mit ihnen nichts passiert.
Heute sind die Kabel wieder an ihrem Platz, oben ist alles asphaltiert, und wenn die Kräne und Baugerätschaften weg sind, verwandelt sich die Fläche wieder in eine richtige Straße zurück. Wer weiß – vielleicht hätten all die Details dieses Projekts auch Helmut Qualtinger interessiert. Was der große Wiener Schauspieler damit zu tun hat? Die Straße vor der Marxbox trägt seinen Namen.