SOLID 11 / 2014 : Die Schanze steigt - Baureport Umbau der Skisprungschanze am Kulm

In Wirklichkeit steigt die Schanze ja nicht, sondern sie wird nach hinten verlegt. Genauer gesagt: Der Tisch der Schanze wird nach hinten verlegt. Und obwohl der höchste Punkt des Anlaufs dort bleibt, wo er jetzt ist, werden Weiten bis zum Weltrekord möglich sein – bei gleichzeitig verbesserter Sicherheit für die Sportler.Geht nicht? Geht doch, erklärt Jürgen Winkler, derzeit in Personalunion sportlicher Leiter des Skiflugbetriebs am Kulm im steirischen Bad Mitterndorf und Projektmanager des Umbaus der einzigen Flugschanze Österreichs und der größten Naturflugschanze der Welt. „Wobei: Naturflugschanze dürfen wir jetzt eigentlich nicht mehr laut sagen“, sagt der 46-Jährige, der ein Glücksfall für das Team rund um den ehemaligen Spitzenspringer Hubert Neuper ist, weil er a) in Bad Mitterndorf wohnt, b) als sportlicher Leiter schon mehrere Umbauten mitgemacht hat und c) große Projektmanagementerfahrung mitbringt von „so kleinen Firmen wie General Electric.“Baumethoden aus dem Kraftwerksbau

Insgesamt werden bei dem Umbau ca. 10.000 Kubikmeter Erde bewegt und 3000 Kubikmeter Beton verbaut. In Spitzenzeiten waren über 40 Arbeiter und sieben Bagger gleichzeitig im Einsatz und es werden an die 20 Kilometer Kabel und fünf Kilometer Wasser- und Kanalrohre neu verlegt. Das mag noch nicht nach viel klingen, aber in einer von Bergen und Moor (Bad Mitterndorf liegt in einer Moorebene, daher bekam man in den 1950er Jahren den Grund für die Schanze auch relativ leicht von den Bauern) diktierten Umwelt wurde das besonders beim Transport der Materialien und vor allem des Baukrans zum Schanzentisch bzw. über die in Serpentinen gewundene Schotterstraße nach oben zu einer Herausforderung der besonderen Art, der sich das Team täglich stellen muss. „Bis zum 8. Jänner – da muss der Erste runterspringen“, grinst Winkler trocken und hat die Sache sichtlich im Griff. Bis zum 8. Jänner deshalb, weil am 9. der Skiflugweltcup am Kulm gastiert und Weiten um und über die 240 Meter erwartet werden – und das dort, wo man jetzt nur in besonderen Situationen über die 200 kommt (den Schanzenrekord auf der bisherigen Kulm-Anlage hält der Österreicher Gregor Schlierenzauer mit 215,5 Metern aus 2009, sein Landsmann Christian Nagiller flog 2003 sogar 220 Meter, doch das verträgt die Schanze nicht – Nagiller kam dabei zu Sturz).Die Baumethoden, die beim Kulm- Umbau zur Anwendung kamen und kommen, sind in hohem Maß dem Kraftwerks- und Liftbau entnommen, samt GPS-Datensammlung und -Anpassung während des Baggerns und Umgang mit plötzlich auftauchenden Felsen, mit denen niemand gerechnet hatte. „Aber wir mussten nichts sprengen“, freut sich Winkler.Weltrekordweiten kosten gleich vielBegonnen hat die Geschichte des 4,2 Millionen Euro teuren und von Land und Bund finanzierten Umbaus vor zwei Jahren. Skisprung- und vor allem Skiflugschanzen unterliegen nach den Regeln des internationalen Skiverbands laufend Änderungen, die hauptsächlich vom beim Springen verwendeten Material und dem Reglement etwa über ein Mindestkörpergewicht der Springer bei einer bestimmten Körpergröße etc. diktiert werden. Die Schanzen bekommen Zertifikate, die immer nur für einen gewissen Zeitraum gelten. Jenes vom Kulm läuft gerade trotz Verlängerung aus und so war ein Umbau auf das neue geforderte Schanzenprofil zwingend notwendig.„Die moderne Flugkurve muss hauptsächlich aus Sicherheitsgründen flacher sein“, erklärt Winkler, und: „Vor allem die Fallhöhe im letzten Flugdrittel ist bei uns das Kriterium.“ Und wenn schon Umbau, dann ordentlich, dachten sich die Verantwortlichen – vor allem, als klar wurde, dass ein Umbau auf dieselbe Hillsize (so der technische Fachbegriff) wie die derzeitige Weltrekordschanze (die Rekordweite steht aktuell bei 246,5 Meter) im norwegischen Vikersund nur unwesentlich mehr kosten würde als ein kleinerer Eingriff.23 Meter nach hintenUnd so nahm die Planung ihren Lauf – unter der Federführung des legendären slowenischen Schanzenbauers Janez Gorisek. Der 81(!)-jährige ehemalige Skispringer arbeitet heute noch immer als Architekt und Ingenieur und hat seine Finger bei praktisch allen großen Flugschanzen der Welt im Spiel, vom bayrischen Oberstdorf über die erwähnte Rekordschanze in Vikersund und die nach ihm und seinem Bruder benannte Anlage in Planica bis jetzt eben zum Kulm.Von ihm ist auch der Trick, mittels dessen die Gesamtlänge und -höhe der Anlage unverändert, die Flugweiten aber so beträchtlich erhöht werden können. Projektleiter Winkler erklärt, wie das geht: „Wir haben den Schanzentisch exakt 23 Meter nach hinten verlegt, da wir ja wegen des Moors nicht tiefer nach unten konnten. Da wären wir dann im Wasser gestanden. Der Bauteil, der jetzt dazukommen musste, ist eine Verlängerung des Aufsprungs um 70 Meter aus Stahlbeton gleich nach dem Schanzentisch, ehe es wieder ins Natürliche geht.“ Deshalb ist der Kulm also eigentlich keine reine Naturflugschanze mehr, obwohl der Anlauf noch immer kein gebauter Turm, sondern in den Berg gelegt ist und auch oben nichts dazukommen musste. Winkler: „Durch die 23 Meter nach hinten ist der Anlauf jetzt nur mehr 146 statt 123 Meter lang – aber das ist egal, denn in der Realität der letzten Jahre sind wir im Wettkampf bei 108 Metern losgefahren und selbst Andi Goldberger mit der Kamera hat nicht mehr als 116 Meter Anlauf gebraucht, um einen echten Flug hinzubekommen.“Hauptziel ist nicht der WeltrekordObwohl es rein rechnerisch möglich ist, auf dem Kulm Weltrekordweiten zu erzielen, ist das aber nicht das Hauptziel auf der Schanze, die in der Vergangenheit bereits zweimal (1986 und 1996) umgebaut worden ist. „Wir wollen vor allem viele Sprünge über 200 Meter, das ist für die Zuschauer vor Ort und das Fernsehen einfach das Wichtigste“, sagt Winkler. Denn im Unterschied zu den Rekordschanzen in Vikersund und Planica herrschen am Kulm fast immer Rückenwindverhältnisse – und diese drücken die Weiten. Und noch eins kommt dazu: Vikersund liegt auf 70 Metern Meereshöhe, Bad Mitterndorf auf 820 Metern – da ist die Luft dünner und trägt nicht so gut. Der Genialität der Umbaukonstruktion tut dies allerdings keinen Abbruch.(SOLID 11 / 2014) _______________BAUTAFEL – LOCAL HEROESBeim Schanzenumbau am Kulm kommen jede Menge KMUs aus Österreich zum Einsatz, der Großteil aus der direkten Umgebung.Planung, Bauüberwachung, Budgetkontrolle: Technisches Büro DI Friedrich Mayer, Trofaiach („einer der maßgeblichen Männer“, sagt Projektleiter Winkler)Beton, Erdbau, Wasser, Kanal und Leitungsbau: Kieninger Bau Bad GoisernStahlbau: Estet GmbHElektroarbeiten: Elektrotechnik GruberAufstockung Kampfrichterturm: Holzbau StieglerBeschneiungsanlage: TechnoalpinMalerarbeiten: Malerei PichlerSpenglerarbeiten: Kahls Bau- und DacharbeitenBegleitplanung: ökologisches Ökoteam Graz

(SOLID 11 / 2014)