SOLID 10/2019 : Baureport: Tunnel unter Wien
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Im Herbst 2009 brachte SOLID einen ausführlichen Baureport über eine Großbaustelle am Matzleinsdorfer Platz in Wien. Damals ging es um einen großen und besonders komplexen Bahnbrückenausbau direkt über der am stärksten befahrenen innerstädtischen Verkehrskreuzung Österreichs. Genau zehn Jahre später widmet sich das Baumagazin Ihres Vertrauens wieder dem Matzleinsdorfer Platz, denn hier nimmt ein wahres Großprojekt des heimischen Infrastrukturbaus gerade Fahrt auf: Die Errichtung des neuen Linienkreuzes der U-Bahnlinien U2 und U5.
In diesen Tagen sind quer durch die Bundeshauptstadt kleinere und größere Baustellen im Vorfeld dieses Projekts nicht zu übersehen. Doch am Matzleinsdorfer Platz kann man derzeit am besten erahnen, welche Dimensionen dieses Vorhaben in den nächsten Jahren noch bekommt. SOLID stellt die Eckdaten zum gesamten Großprojekt sowie zu den bereits laufenden Arbeiten vor und erklärt, warum die Dinge an anderer Stelle trotz Spatenstichs im vergangenen November noch ruhen.
Komplexe Trassenführung
Die Wiener U-Bahn hat seit ihrer Inbetriebnahme 1978 schon mehrere große Ausbaustufen hinter sich. Das Liniennetz umfasst heute 109 Stationen auf einer Streckenlänge von 83 Kilometern. Doch die Erweiterung um das Linienkreuz U2xU5 bringt eine neue Dimension. Das Besondere daran ist die Trassenführung: Die neuen Linien gehen mitten durch sehr dicht bebautes urbanes Gebiet, müssen komplett neu errichtet werden und können nicht auf bestehende Bahnwege der Kaiserzeit zurückgreifen, wie etwa die U6 mit den Stadtbahnbögen. Auch wird die neue Strecke unter dem Wienfluss durchtauchen und mit 35 Metern Tiefe viel tiefer liegen als jede heute bestehende Linie.
Entsprechend komplex waren bereits die Planungen. Im Jahr 2000 startete die MA 18, die Wiener Abteilung für Stadtentwicklung, mit Berechnungen, welche Trassenführung am besten wäre. Dabei galt es, Faktoren wie Auswirkungen des Baus und vor allem des späteren Betriebs auf den Verkehr zu untersuchen. Ebenso die Geologie, das Grundwasser sowie die Kosten für die Verlegung von Leitungen für Gas, Wasser, Kabel, Stromleitungen und Fernwärme im Untergrund. 2014 fiel die Entscheidung für ein Linienkreuz, das an einem Dutzend Stationen ein Umsteigen erlaubt und vor allem die heute massiv ausgelasteten Linien U6 und 13A entlastet.
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Daraufhin begannen die eigentlichen Vorarbeiten und weitere Probebohrungen für die Detailplanung. Weil für so vielen Altbauten genaue Daten fehlen, wurden in rund 450 Häusern mehr als 5.000 kleine Schächte gegraben, um den Zustand der Fundamente zu erheben – und zwar per Hand, mit Krampen und Kübel. Das Ziel: In jedem Fall spätere Schäden sowohl von den Bauarbeiten als auch vom U-Bahnbetrieb zu vermeiden. 2016 stand der genaue Trassenverlauf fest.
Im Sommer 2017 übernahmen die Wiener Linien das Projekt, und das Siemens-Werk in Simmering bekam einen millionenschweren Auftrag zum Bau neuer Garnituren, die künftig ohne Fahrer verkehren sollen. Auch ein internationaler Architekturwettbewerb zur Gestaltung der Stationen wurde gestartet, den eine Arbeitsgemeinschaft der Büros YF Architekten und Franz&Sue gewinnen konnte – beide aus Wien.
Widerruf von zwei Großaufträgen
2018 schließlich die Ausschreibung für zwei große Vergabepakete des Projekts und vergangenen Oktober der feierliche Spatenstich am Matzleinsdorfer Platz. Doch genau vier Wochen später riefen die Wiener Linien die Ausschreibung für die zwei Aufträge zurück und legten ein weiteres großes Vergabepaket gar nicht erst auf. Der Grund dafür war der Boom der Baubranche, die damals schon mit anderen Großaufträgen alle Hände voll zu tun hatte und mit den Preisen nicht nachgab.
Die Baukonsortien, die sich beworben hatten, hätten "inakzeptable Angebote" gelegt, erklärte damals Günter Steinbauer, Geschäftsführer der Wiener Linien: "Wir wissen nach 40 Jahren Erfahrung schon recht gut, was ein Meter Tunnel kosten sollte." Man sei nicht bereit, jedes Angebot zu akzeptieren, nur um den Terminplan einzuhalten. Wie hoch die Gebote waren und welche Summen sich der Auftraggeber vorgestellt hat, wollte Steinbauer damals nicht sagen. Doch nach Schätzungen von Insidern geht es bei der ersten Ausbaustufe bis 2027 um rund eine Milliarde Euro und um eine weitere Milliarde bei der zweiten Ausbaustufe – bei der jedoch noch sehr vieles offen ist.
Verhandlungsverfahren läuft
Also starteten die Wiener Linien im heurigen Frühjahr ein neues Vergabeverfahren – diesmal allerdings nicht ein offenes, sondern ein sogenanntes Verhandlungsverfahren. Dabei konnten sich Firmen bis April bewerben und wurden danach eingeladen, ein detailliertes Angebot einzureichen, über das in diesen Wochen gerade verhandelt wird. "Die erste Verhandlungsrunde ist schon vorbei", sagt Pressesprecherin Ingrid Monsberger-Köchler, die bei den Wiener Linien das Großprojekt betreut. "Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass Baufirmen ihre Ideen viel stärker einbringen können. Beim offenen Verfahren gibt es diesen Spielraum nicht, weil Verhandlungen nach Einreichung des Gebots unzulässig sind.“ Das Verfahren läuft voraussichtlich noch bis Frühjahr 2020, dann stehen die Baukonsortien fest, an die die Aufträge vergeben werden. Danach werden die Baustellen eingerichtet und voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2020 beginnen die Bauarbeiten an den Stationen und am schweren Tiefbau.
Zwei Großbaustellen für Vorarbeiten
Soweit zum heutigen Stand des Projekts. Doch an mehreren Orten ist die Arbeit an Großbaustellen schon voll in Gang. Einer dieser Orte ist die U-Bahn-Station Pilgramgasse am Wienfluss, wo neben Habau die Mannschaft der Baufirma Leyrer+Graf heuer im Sommer rund um die Uhr gewerkt hat, um die Strecke der U4 grundlegend zu sanieren. In den vergangenen Monaten wurde das gesamte Stationsgebäude außer dem historischen, von Otto Wagner errichteten Zugang abgetragen und eine riesige stählerne Plattform über dem Wienfluss errichtet, um die stark befahrene Wienzeile nicht zu sehr zu beanspruchen. Dort fanden auch bereits Bohrpfahlarbeiten für die neue U2 statt, die unter dem Wienfluss die U4 kreuzen wird.
Eine andere aktuelle Großbaustelle ist der Matzleinsdorfer Platz. Hier bauen Porr und Implenia. Ein Teil der Arbeiten erfolgt in einer Tiefe von 15 Metern direkt unter dem Platz. Weil hier vier große Wasserleitungen aufeinander treffen, passiert schon seit Jänner 2018 die Verlegung dieser Wasserleitungen noch weiter nach unten. Aktuell wird hier eine "Weiße Wanne" betoniert – ein wasserdichter Raum aus Stahlbeton. Für jedermann sichtbar sind die Arbeiten an der Oberfläche seit dem heurigen Juli, bei denen es um die Errichtung einer großen Rampe für eine neue Auffahrt zum Margaretengürtel geht.
Riesige Schlitzwandgreifer
Wenige Meter weiter liegt in der Triester Straße ein Baufeld von 5.000 Quadratmetern – das größte beim gesamten Projekt. Von hier aus soll die wuchtige Tunnelbohrmaschine starten und ohne Unterbrechung bis zum Augustinplatz im 7. Bezirk "durchfahren". Aktuell passiert hier die sogenannte Baugrubensicherung.
Bei beiden Baustellen kommen Schlitzwandgreifer zum Einsatz – und genau das war auch der Grund, weshalb den ganzen Sommer über Passanten bei beiden Baustellen rund um den Matzleinsdorfer Platz stehen geblieben sind. Mit den riesigen Schlitzwandgreifern werden enorm massive Stahlbetonwände gebaut, die später als "Einfahrt" für die Tunnelbohrmaschine sowie als Außenschale und das Fundament für die künftige Station dienen. Und so war es auch für Laien ein Schauspiel, wenn die Maschinen ihre Greifer ganz in einen schmalen, mit der grauen Stützflüssigkeit Betonit gefüllten Spalt versenken, um sie dann plötzlich hinaufzuziehen in eine Höhe, die drei, vier Stockwerken entspricht.
Warten auf den Star des Maschinenparks
Doch das ist alles erst der Auftakt. Irgendwann hat dann hier die Tunnelbohrmaschine ihren Auftritt: Sieben Meter hoch, 50 Meter lang und eine Bohrgeschwindigkeit von 12 Metern in 24 Stunden, was knapp einem Zentimeter in der Minute entspricht. Welche Tunnelbauer sie aber fahren werden, steht noch nicht fest – der Matzleinsdorfer Platz bleibt also auch in Zukunft ein Ort, an dem immer etwas in Bewegung ist.
(SOLID 10/2019)
Zeitleiste
2000:
Beginn der Planungen für das neue Linienkreuz U2xU5.
2014:
Hauptvorschlag für das Linienkreuz ist erarbeitet. Es folgen erste Probebohrungen und Fundamentüberprüfungen.
2016:
Hauptbohrungen starten. Genaue Trasse wird fixiert. Untersuchungen entlang des Trassenbands für Detailplanungen. Überprüfung der Fundamente von rund 450 Häusern.
2017 bis heute:
Probebohrungen entlang der Strecke; erste Probebohrungen starten am Elterleinplatz. Derzeit Bohrungen für die zweite Baustufe u.a. in Hernals.
2018, Frühjahr:
Wiener Linien schreiben zwei Großaufträge aus.
2018, November:
Wiener Linien widerrufen die offene Ausschreibung und schreiben einen dritten Großauftrag nicht aus. Grund seien "inakzeptable Angebote".
2019, Februar:
Umfangreiche Vorbereitungsarbeiten am Matzleinsdorfer Platz und an der U4-Station Pilgramgasse starten. Probebohrungen und Vorbereitungsmaßnahmen an der Mariahilfer Straße laufen schon viel länger.
2019, April:
Eine Neuausschreibung der Aufträge startet, diesmal in einem Verhandlungsverfahren. Insider schätzen das Finanzvolumen für die erste Ausbaustufe bis 2027 auf eine Milliarde Euro.
2020, Frühjahr:
Nach Ende der Einspruchsfrist stehen voraussichtlich die Auftraggewinner fest.
2020, zweites Halbjahr:
Nach der Baustelleneinrichtung beginnen die Bauarbeiten am Linienkreuz U2xU5.
2025, Frühjahr
Geplante Inbetriebnahme der U5 bis zum Frankhplatz.
2027, Frühjahr
Geplante Inbetriebnahme der U2 bis zum Matzleinsdorfer Platz. Damit ist die erste Baustufe abgeschlossen.
Drei Baumethoden
Offene Bauweise
Offenbe Bauweise beziehungsweise Deckelbauweise für Schächte im Bereich der Stationen und bei einem kleinen Abschnitt der U5
Neue Österreichische Tunnelbaumethode
Die erprobte Methode NÖT kommt bei den Stationstunneln und für die Streckenröhren im 1. und 8. Bezirk zur Anwendung.
Tunnelbohrmaschine
Die Streckentunnel vom Matzleinsdorfer Platz bis zur Neustiftgasse im 7. Bezirk werden mit einer Tunnelbohrmaschine hergestellt.
(SOLID 10/2019)