Milchmänner gibt es nicht mehr und Zeitungskolporteure tummeln sich gemeinhin nicht nächtens auf Autobahnen. Das sind die beiden Berufsgruppen, die – terminmäßig gesehen – von Mitternacht bis vier Uhr früh durch eine Sperre der Gürtelauffahrt Arsenal auf die Südosttangente am ehesten betroffen wären.
Denn am Dienstag, den 11. Februar des Jahres, herrschte im Süden Wiens der absolute Verkehrsstopp. In den ersten vier Stunden des neuen Tages mussten Nachtschwärmer und Schichtarbeiter ihren nächtlichen Reiseweg aus dem Zentrum in den Süden Wiens abseits der Autobahnauffahrt wählen.Da wurde der Autobahnzubringer von riesigen Transportkränen beherrscht, die auf Liefertour waren: Sie brachten Kamine, und zwar monströse. Insgesamt drei Kaminteile zwischen 20 und 32 Meter Länge waren vom Herstellungsort in Dänemark Richtung Wien in Marsch gesetzt worden, um hier in Zukunft den Rauchgasen des neuen Fernheizkraftwerks Arsenal den (gesäuberten) Weg ins Freie zu weisen. Die Reise wurde per Bahn und Schiff gestartet, um die letzten Kilometer auf Riesenaufliegern und LKW an die Autobahnauffahrt herangekarrt zu werden. Dort hoben Kräne die drei Kamine mit den Maßen eines durchschnittlichen Kirchturms über Leitplanken und Grundstücksabgrenzungen, um die letzten Meter wieder per LKW zur Baustelle zu rollen. Eine Spezialhebevorrichtung von Felbermayr sorgte schließlich in Millimeterarbeit dafür, dass die drei Kaminteile, verbrämt durch eine gemeinsame Außenhülle, in Zukunft ihre Arbeit in der Vertikale verrichten. Pünktlich ab vier Uhr Früh floss der Verkehr im Süden Wiens wieder in seinen gewohnten Bahnen.Im Fokus der FahrerDas Kraftwerk Arsenal ist eine der meistbeachteten Baustellen Wiens – auch wenn dies den meisten nicht so klar ist. Wer die Praterbrücke auf der Südosttangente Richtung Süden überquert, hat die Baustelle und ab 2015 das fertige Kraftwerk voll im Blick. Das sind pro Tag mindestens 175.000 Lenker. Dadurch gewinnt der Standort stadtplanerische Bedeutung – mit ein Beweggrund, der den Bauherrn Wien Energie veranlasste, einen Architektenwettbewerb auszuschreiben. Zum Zug kam ein Entwurf des Grazer Planers Markus Pernthaler, der das Kraftwerk in eine „spacig“ anmutende Hülle aus Stahl, Glas und Solarmodulen steckt, die den Bau nahtlos in jede Kulisse von Star Wars fügt. Die Chancen stehen gut, dass das Kraftwerk Arsenal zu einer ähnlichen architektonischen Marke für den Bauherrn Wien Energie wird wie das Kraftwerk Spittelau („Hundertwasser-Schloss“).VersorgungssicherheitDer 60-Millionen-Bau ist als Spitzen- und Reservewerk des Wiener Fernwärmenetzes konzipiert. Es ist beton-, stahl- und glasgewordener Ausdruck des Begriffes „Versorgungsssicherheit“. Mit anderen Worten: Es ist ein Kraftwerk für die Reservebank – so wie vier andere Großanlagen in Wien auch. Das neue Fernheizkraftwerk wird erst dann zum Netz geschaltet, wenn der Wärmebedarf nicht mehr durch die drei Grund- und vier Mittellast-Anlagen der Wien Energie gedeckt werden kann. Über den Daumen gepeilt ist das immer dann der Fall, wenn in der Bundeshauptstadt die Quecksilbersäule auf zehn Grad unter null geht. Mit mehr als 200 Betriebsstunden im Jahr wird nicht gerechnet. Wenn es so weit ist, wird in der Zentrale in der Spittelau auf den Knopf gedrückt. Im ganzen Kraftwerksblock am Arsenal ist kein einziger ständiger Arbeitsplatz vorgesehen.Anders als die Grundlast-Kraftwerke (Flötzersteig, Spittelau, SBS), wo die Wärme aus der Müllverbrennung gezogen wird, werden die Spitzenlast-Versorger mit Öl und Gas befeuert. Das neue Arsenal-Kraftwerk verbirgt in seinem Vorfeld fünf unterirdische Ölspeicher, die den Betrieb für drei bis vier Tage sicherstellen können. Um auf der sicheren Seite zu sein, gibt es noch die Anbindung an die Erdgasversorgung der Stadt. Insgesamt können mit den beiden Kesseln des Fernheizkraftwerkes 70.000 Wohnungen gewärmt werden. Bis 2020 soll Fernwärme ihren Anteil am Raumwärmemarkt der Bundeshauptstadt von derzeit 36 Prozent auf 50 Prozent steigern. Um dieses Ziel zu erreichen, sind bis zu 1,3 Milliarden Euro an Investitionen notwendig.Altes Kraftwerk vom NetzDas Arsenal-Gelände – genauer gesagt dessen letzte Ecke – ist kein neuer Kraftwerksstandort. Es befindet sich dort bereits ein alter Heizblock, der 1970 von Wien Energie übernommen und als Spitzenkessel sukzessive ausgebaut wurde. Die alte Anlage verrichtet derzeit unverändert ihre Dienste. Allerdings gibt es keine Betriebsanlagengenehmigung mehr: Das mit Heizöl schwer betriebene Kraftwerk verletzt so ziemlich jede Emissionsnorm und muss im Mai 2014 vom Netz genommen werden. Der in rund 100 Meter vom neuen Standort entfernte 60er-Jahre-Bau wird dann mitsamt seinen einfamilienhausgroßen Erdöltanks geschliffen und durch ein Einkaufszentrum ersetzt.Untersuchungen und Test Bauen an historischen Standorten hat Tücken. Vor Start der Aushubarbeiten wurde der Baugrund penibel nach Kriegsrelikten und verbuddeltem Sprengstoff gecheckt – auf einem alten Kasernengelände wie dem Arsenal eine einsichtige Maßnahme. Die Sprengstoffexperten wurden unter einer 12 Meter dicken Schicht aus Bauschutt auch fündig, die in der Nachkriegszeit und in Folge der angrenzenden Autobahnarbeiten sukzessive angehäuft wurde. Für die ausführenden Unternehmen Habau und Zauner (Anlagenbau) herrscht Termindruck: Nach Baubeginn im Februar 2013 soll die Fassade im April geschlossen werden. Im Juli wird das neue Werk an das Wiener Fernwärmenetz angeschlossen. Der Probebetrieb soll Mitte Dezember 2014 starten und im Frühjahr 2015 in den ständigen Betrieb übergehen. Das Baukonzept ist in der Systematik einfach. Die Hülle ruht im Wesentlichen auf einem Stahlbaugerüst, das auf einem einstöckigen Betonfundament aufliegt. Betonwände schützen bis zu Obergeschosshöhe noch die beiden Kessel und den Kamin, der Rest ist Stahl, Blech und vor allem Glas, das in Höhe des Erdgeschosses den Bau ummanteln wird.Dass die Gebäudehülle als geschlossene Kuppel in Szene gesetzt werden kann, ist einem Kunstkniff des Architekten geschuldet. Markus Pernthaler hat die Gasregelstation – ein containergroßes Modul, das durch Explosionsklappen normalerweise den Bruch jeder einheitlichen Fassadenfront provoziert – ganz einfach ausgelagert. Der schmucklose Zweckbau verrichtet seine Aufgaben im Vorfeld des Kraftwerkes. So wird die Silhouette nur durch den 30 Meter hohen Kamin gebrochen. Kraftwerk mit PV-AnlageDie geschlossene Hülle bietet eine in der Architektur seltene Gelegenheit, die Fassade für die Erzeugung von Solarstrom zu nutzen. Die integrierte Photovoltaikanlage soll pro Jahr rund 190 Megawattstunden Ökostrom liefern. Dabei ist die Ausrichtung des Kraftwerks alles andere als optimal: Die Fassade ist zum Großteil nach Norden ausgerichtet und verschattet.Daher kommt die Technologie der Grätzelzelle zum Einsatz – ein Konzept, das in den frühen Neunzigerjahren in der Schweiz entwickelt wurde und sich grundlegend von der bekannten Silizium-Solarzelle unterscheidet. Ihr Vorteil: Grätzelzellen arbeiten auch mit indirektem Licht. Das Kraftwerk Arsenal gilt in der PV-Branche als Meilenstein für die Marktdurchsetzung dieser Technologie (siehe Artikel Seite 42 über „gebäudeintegrierten Photovoltaik“). Bis Ende 2015 sollen die Solarmodule installiert sein.Der Taschenlampen-DurchbruchDie PV-Idee hat aber auch ihre Tücken. Die Glasfassade, die als Träger der Module herhalten wird, befindet sich genau auf Augenhöhe der vorbeifahrenden Autolenker. Die zuständige Bewilligungsbehörde im Wiener Magistrat forderte folgerichtig eine Verschattung der Glasfassade, um die Fahrer nicht zu blenden. Selbst bei einer genügsamen Solartechnologie wie der Grätzeltechnik ist diese Auflage ein Todesstoß. Gutachter der Wien Energie gaben sich bei der Behörde die Klinke in die Hand, um das Magistrat davon zu überzeugen, dass das Licht durch das spezielle Glas und die dahinterliegenden Module verarbeitet und kaum reflektiert wird. Die Behörde blieb stur – bis einer der Experten eine Taschenlampe aufdrehte, vorne die Hand draufhielt und demonstrierte, wie viele Lichtreflexionen bei den Autofahrern ankämen. Daraufhin gab es den Bescheid.
(SOLID 03 / 2014)