Reportage : Am Nerv der Großstadt
Text: Peter Martens
Fotos: Michael Hetzmannseder
Viele Tausend Fahrzeuge passieren jeden Tag den Matzleinsdorfer Platz im Süden von Wien – aber kaum einer der Autofahrer schaut lange nach oben. Zu stark ist der Verkehr auf den elf Verkehrsspuren: Stadteinwärts geht es direkt auf den Gürtel oder in die Innenstadt, stadtauswärts Richtung Graz, Klagenfurt, Prag oder Kroatien.
Doch manchen von ihnen fällt trotzdem etwas Seltsames auf. Hinter den provisorischen Fahrbahnsperren aus Beton ragen derzeit drei Stützpfeiler in den Himmel, die etliche Meter höher sind als die alte Zugbrücke daneben. Hoch über den Köpfen der Passanten stehen sie in diesen Wochen einfach da und sehen mitten auf der Baustelle ziemlich sinnlos aus. „Dann kommen manchmal die Leute und fragen: Na, hat sich da jemand verbaut?“ erzählt Judith Engel. Peter Gregan fügt hinzu: „Wir sagen dann: Tja, hoppla. Aber jetzt ist's zu spät. Schade...“
Nein, hier hat sich niemand verbaut. Als Projektleiterin Infrastruktur repräsentiert Judith Engel den Auftraggeber, die ÖBB. Als verantwortlicher Bauleiter steht Peter Gregan von Bilfinger Berger auf der Seite des Auftragnehmers. Zusammen mit zahlreichen Bauplanern, Verkehrsplanern, Magistratsmitarbeitern der Stadt Wien, Ingenieuren der ÖBB und den Bauarbeitern vor Ort verantworten sie die Errichtung einer neuen Eisenbahnbrücke über der Kreuzung. Klingt eigentlich ganz einfach – wenn man einmal davon absieht, dass hier nach Abschluss der Bauarbeiten nicht eine, sondern genau genommen drei Brücken nebeneinander stehen werden, von denen die südliche zuerst errichtet, dann abgesenkt, und dann erst mit Tragwerken unterbaut wird. Und die mittlere „nach oben“ abbiegen muss – deshalb die höheren Stützpfeiler. Einfach wäre es schließlich auch, wenn man es hier nicht mit einem der am intensivsten genutzten Verkehrsknotenpunkte Österreichs zu tun hätte.
500 Tonnen Stahl, 4.500 Kubikmeter Beton
Auch wenn der künftige Wiener Hauptbahnhof knapp zwei Kilometer entfernt ist, hängt der Brückenbau am Matzleinsdorfer Platz direkt damit zusammen. Für den Zugverkehr der Zukunft ist die 1963 errichtete, 42 Meter breite Einsenbahnbrücke zu klein und muss um rund 16 Meter erweitert werden. Die in Wien ansässige Konzerntochter von Bilfinger Berger übernimmt sowohl Tief- als auch Hochbauarbeiten und schafft mit insgesamt 500 Tonnen Stahl und 4.500 Kubikmetern Beton Platz für zwei zusätzliche Gleise. Seit Juni ist das Unternehmen vor Ort, derzeit mit einem Autokran und rund 20 Mitarbeitern. Für Oktober 2010 ist der Abschluss der Ingenieurarbeiten vorgesehen – danach übernehmen die ÖBB den Gleisausbau.
Jedes größere Bauvorhaben ist eigentlich ein Unikat. Doch die Brücke am Matzleinsdorfer Platz fällt in mehreren Hinsichten tatsächlich aus dem Rahmen: Erstens wegen möglichen Auswirkungen der Bauarbeiten auf den Verkehr von ganz Wien. Zweitens wegen der Planung von zwei neuen, unterschiedlich hohen Brückenteilen neben einer bestehenden, und all das nur eine „Etage“ oberhalb einer Großkreuzung. Und drittens für die Beschäftigten auf dem Bau vor Ort, die zwischen elf stark frequentierten Verkehrsspuren die Pläne umsetzen. Alle Verantwortlichen vor Ort sind sich einig: Die Arbeit an diesem neuralgischen Punkt ist eine Herausforderung.
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Das zeigt sich bereits beim Zusammenhang zwischen den baulichen Aufgaben und der Verkehrsplanung. Anfang 2010 gehen die Arbeiten am Hauptbahnhof richtig los. An diesem für die ÖBB und für Wien größten Infrastrukturprojekt der kommenden Jahre entsteht bald nicht nur ein ganzes neues Stadtviertel, sondern auch eine der wichtigsten Drehscheiben für Schienenverkehr in ganz Europa. Entsprechend groß sind die Auswirkungen auf zahlreiche Bahnhöfe und Straßen. Was das konkret bedeutet, erklärt Markus Liebsch, Bezirksverantwortlicher im Bereich der Verkehrsorganisation im Magistrat MA 46 der Stadt Wien: "Wir haben hier fünf Knotenpunkte, an denen weitreichende Verkehrsbaumaßnahmen stattfinden müssen: Neben dem Südtiroler und dem Matzleinsdorfer Platz die Landgutgasse, die Gudrunstraße und den Wiedner Gürtel."
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Berechnungen für 100.000 Fahrzeuge
Nach dem Antrag des Bauherrn auf Durchführung musste die Stadt die Auswirkungen auf den Verkehr regeln. Die Berechnungen dafür waren mehr als komplex. "Allein den Matzleinsdorfer Platz passieren jeden Tag 100.000 Fahrzeuge: Das ist die Hälfte der Südosttangente, aber dort gibt es keine Ampeln", erklärt Liebsch. Neben dem Individual-, Güter– und Schienenverkehr fahren hier zwei Bus– und vier Straßenbahnlinien vorbei. Was passiert, wenn man einige Spuren sperrt – oder die ganze Kreuzung? Wenn nur 50.000 Fahrzeuge durchkommen, wo fahren dann die anderen hin? Und welches Zusammenspiel ergibt das mit den anderen Baustellen?
Die Antworten darauf lieferte die Firma arealConsult mit einer Verkehrsstromanalyse: Sie rückte dem Individualverkehr mit Mathematik auf den Leib. Die Ergebnisse der Berechnungen zeigt Christian Heitzer von arealConsult auf mehreren großformatigen Stadtplänen. Je nach Baumaßnahme symbolisieren unterschiedlich dicke rote Balken die Behinderungen auf den wichtigsten Verkehrsadern im Süden der Stadt, ihre Auswirkungen sind auch noch weit im Norden sichtbar. arealConsult empfahl unter anderem, wegen der "Flüssigkeit" des Verkehrs die Arbeiten am Matzleinsdorfer Platz deutlich früher anzufangen als am Hauptbahnhof. Mit diesen Ergebnissen trat die Stadt an die ÖBB heran, und heuer im Juni begann die Einrichtung der Baustelle.
Die Verteilung der Aufgaben
Die Rollen sind folgendermaßen verteilt: Bauplaner der Bundesbahnen formulieren die genauen Anforderungen des Projekts. Für die Baustelle am Matzleinsdorfer Platz ist das die Aufgabe von Helfried Axmann von den Engineering Services der ÖBB Infrastruktur. Die Umsetzung der Vorgaben und die detaillierte Ausarbeitung der Planungen ist der Bereich von Gerhard Baumgartner von der Gesellschaft ISP Ziviltechniker. Projektleiterin Judith Engel und Baumanager Ludwig Szedeniek sind in den laufenden Betrieb am Bau involviert. Bauleiter Peter Gregan und seine Mitarbeiter von Bilfinger Berger setzen schließlich alle Pläne und Zahlen in die Realität um. Bilfinger Berger ist in diesem Fall eine Art "One-Stop-Shop", wie Judith Engel erklärt. Das Unternehmen führt sowohl Tief– als auch Hochbauarbeiten aus und zeichnet vom Baubeginn bis zur voraussichtlichen Fertigstellung im Herbst 2010 für das Objekt verantwortlich.
Belieferung der Baustelle erfolgt von oben
Beim Rundgang über das Areal muss man einmal unter den elf Autospuren "durchtauchen" und einmal über sie drüber gehen. Neben dem bestehenden Brückenteil sind derzeit in südlicher Richtung drei Stützpfeiler für den mittleren Teil fertig. Dabei zeigt Peter Gregan, dass die Andienung der Baustelle im Moment vor allem von oben erfolgt: Die Lkw kommen aus nördlicher Richtung und biegen parallel zu den Gleisen nach Westen ab. Dann passieren sie die Container, können weit hinten wenden und fahren auf einer provisorischen Rampe aus recyceltem Beton nach oben auf den älteren Teil der Brücke. Herunter auf die Straße geht es nur im Rückwärtsgang. Oben wird das Material mit einem Autokran ausgeladen und nach unten gereicht. Auf Straßenniveau haben die Bauarbeiter meist nur so viel Platz, wie die kleinen, von Fahrbahnsperren abgegrenzten Verkehrsinseln ihnen bieten. Nicht alle Arbeiten lassen sich so durchführen: Ganz ohne Sperren geht es nicht.
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Gregan skizziert den bisherigen Zeitplan: Im Juni fanden die Vorleistungen statt – Aufstellung der Container, des Lagers, der Betonleitwände und Bodenmarkierungen auf den Fahrbahnen, dazu Umlegung einer 55-kV-Leitung und eines Gehwegs. Ab Juli ging es dann mit dem Tiefbau los. "Wir hatten immer genau einen Monat Zeit pro Verkehrsinsel, um die Bohrpfähle zu erstellen", sagt der Bauleiter. Bis in eine Tiefe von knapp 30 Metern wurden bisher rund 40 Bohrpfähle mit einem Durchmesser von 120 Zentimetern verbaut. Der Tiefbau lief hier – wie oft im dicht besiedelten urbanen Raum – nicht ganz reibungslos ab.
Tiefbau: Fast nie ohne Überraschungen
Für die Bohrpfähle kam das Baugerät Liebherr Greifer mit 26 Metern Höhe und 100 Tonnen Gewicht zum Einsatz. Doch unter der Fahrbahn befindet sich ein zweigleisiger Straßenbahntunnel. Die Baufirma musste nicht nur mehrere Bohrpfähle teilweise im Abstand von nur 30 Zentimetern neben der Tunnelmauer platzieren, sondern diesen Tunnel auch viermal überqueren. Das ist eine Zahl, an die sich alle Beteiligten noch genau erinnern können. Der Bauplaner Gerhard Baumgartner erklärt, warum: "Wäre die Maschine einfach drübergefahren, wäre der Tunnel eingestürzt." Also habe man die 20 Tonnen schwere Verrohrungsmaschine zuerst demontieren müssen, so Baumgartner. Dann fuhr das "erleichterte" Baugerät los über den Tunnel – und zwar nur auf einer bestimmten Fuge, die dem Gewicht von 80 Tonnen standhalten kann. Ein Messprogramm kontrollierte währenddessen die Beschaffenheit des Tunnels.
Zusätzlich erweisen sich die jahrzehntealten – oder deutlich älteren – Aufzeichnungen zu bestehenden Einlagen unterhalb der Straße nicht immer als besonders genau. So wartete in der Erde an einer Stelle überraschend eine Hilfsplatte aus den 1960-er Jahren auf die Bauarbeiter: 1,5 Meter dicker Beton, den sie komplett rausnehmen mussten. An einer anderen Stelle quert ein Kanal mit 2,5 Metern Durchmesser das Areal, der in acht Metern Tiefe Oberflächenwasser abführt. Doch der Polier Franz Ziegerhofer von Bilfinger Berger lässt sich nicht entmutigen: "Die Herausforderungen sind extrem. Aber das ist wirklich eine interessante Baustelle." Dann erzählt er von der 55-kV-Stromleitung, die zu den wichtigsten Lebensadern des Südbahnhofs gehört und halb Wien mit Strom versorgt. Jetzt liegt sie – vorübergehend einbetoniert – 30 Zentimeter unter den Füßen der Bauarbeiter.
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Auch wenn in der nächsten Tiefbauphase für den südlichen Teil der Brücke sicher neue unerwartete Aufgaben kommen, sind bei diesem Projekt die Anforderungen im Hochbau wohl höher. Alle Teile der Eisenbahnbrücke müssen am Ende eine doppelt so hohe Last tragen können wie eine "normale" Autobrücke. Der mittlere Brückenteil steigt dabei als ein sogenanntes Überwerfungstragwerk nach oben und überquert andere Gleise. Weiter hinten müssen unter dem Tragwerk Züge eine Durchfahrtshöhe von sechs Metern haben.
Die ersten Stützpfeiler dafür sind bereits fertig. Auch die Verbindung zum bestehenden Tragwerk kann losgehen: Dessen Randbalken wurde abgebrochen und mit einem neuen ersetzt, so dass neue Elemente zum bestehenden zunächst verdübelt werden, bevor sie das alte direkt überragen. Seit Dezember wird der mittlere Teil mit einem Leergerüst aus Stahlträgern eingekleidet, während dafür mehrere Fahrbahnen teilweise gesperrt werden. Wegen der Sicherheit der Passanten und Autofahrer – und weil das Verkehrsaufkommen in diesem Monat besonders intensiv ist – arbeiten die Beschäftigten am Bau im Dezember mehrere Tage in der Nacht von 20 bis 5 Uhr durch.
In Bewegung – das Kernstück aus Beton
Danach geht der mittlere Teil hoch hinaus. Doch das eigentliche Kernstück des Projekts ist der südliche Brückenteil – gerade weil er unten bleibt. Wenn dieses Element fertig ist, soll es eine Durchfahrtshöhe von maximal 4,70 Metern haben. Das Problem dabei: Auch das Leergerüst braucht seinen Platz. Zum Einsatz kommt hier eine 800 Millimeter hohe Stahlkonstruktion. Judith Engel beschreibt das so: "Wenn wir damit einfach losbauen, werden die Lkws zu Cabrios." Eine Alternative wäre eine Vollsperre der Kreuzung. Dann kann allerdings monatelang kein einziges Auto den Matzleinsdorfer Platz passieren, was massive Auswirkungen auf alle Ausfallstraßen Wiens hätte. Also muss es einen anderen Weg geben.
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Die Lösung dieses Problems sieht so aus: Seit Ende November wird ein Leergerüst aus Stahl im Bereich des südlichen Brückenteils montiert, das man hydraulisch absenken kann. Ab März 2010 wird das Tragwerk betoniert. Danach wird es abgesenkt – "feldweise", wie die Verantwortlichen erklären, in Schritten von 20 Zentimetern. Am Ende müssen das Tragwerk und seine Stützpfeiler aus Gründen der Statik monolithisch miteinander verbunden sein. Deshalb werden die Stützpfeiler erst dann mit Bewehrungen mit diesem Brückenbereich verbunden und daran betoniert, wenn ein Teilstück auf seine Zielhöhe abgesenkt ist. Das passiert zwischen April und August, wie der Bauleiter erklärt. Ganz beendet ist das Projekt für Bilfinger Berger und für die Planer von den ÖBB und ISP erst im Oktober 2010.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie diesen Termin auch einhalten: Im detaillierten Zeitplan sind auch die Sanktionen für Verspätungen vertraglich genau geregelt. Trotzdem spricht Peter Gregan von Bilfinger Berger von der hervorragenden Atmosphäre zwischen den Vertragspartnern: "Ich bin länger dabei, habe schon in Frankfurt Hochhäuser gebaut. Aber eine so gute Zusammenarbeit gab es noch nie." Das ist allerdings nicht überraschend: Das ausführende Bauunternehmen liegt derzeit eineinhalb Monate vor dem festgelegten Zeitplan.
FACTS:
Offizieller Name: Wien Hauptbahnhof; Baulos 3 Triester Straße
Baubeginn: Juli 2009
Fertigstellung: Oktober 2010
Investitionskosten: Investitionen in die Bahninfrastruktur des Hauptbahnhofs und weiterer Bahnhöfe: 933 Millionen Euro; davon knapp ein halbes Prozent für die Brücke am Matzleinsdorfer Platz
Auftraggeber und Projektleitung: ÖBB Infrastruktur AG
Auftragnehmer Hoch- und Tiefbau: Bilfinger Berger Baugesellschaft GmbH
Projektplanung: ÖBB Infrastruktur Engineering Services
Wiener Team / ISP Ziviltechniker GmbH
Verkehrsorganisation: Stadt Wien, Magistratsabteilung 46
Verkehrsuntersuchung: arealConsult Engineering Company
Örtliche Bauaufsicht: Arge FCP-Tecton Metz