Reportage: Fernwärmeleitung Wien : Fünf heiße Kilometer

Fernwärmeleitung Wien Baugrube
© Michael Hetzmannseder

Engerthstraße 237, Wien-Leopoldstadt: Wer den Portalkran erspäht, weiß, dass er fast am Ziel ist. Weit in den wolkenschweren Himmel aufragend, springt das Monster hier neben zwei knallroten Baucontainern ins Auge. Eine Flut von Bildern und Tönen wartet jedoch unter der Erde. In einem 30-Meter-Schacht – tief wie ein neunstöckiger Neubau hoch – bringen Arbeiter gerade eine Kletterschalung an. Der Schacht ist der Startpunkt für einen 1200 Meter langen Stollen bis zum Mexikoplatz.

An den unverwechselbaren Klangteppich in der Riesenröhre haben sich die Bauarbeiter längst gewöhnt. Bald werden sie hier unzählige Heizungsrohre verlegen. Denn die Wien Energie Fernwärme erweitert ihr Leitungsnetz. „Die Bezirke nördlich der Donau sollen optimal ans Fernwärmenetz angebunden werden“, erklärt Gerald Schekolin, zuständig für die örtliche Bauaufsicht von Bauherrenseite.

Spezialisten am Werk

Mit der neuen, fast fünf Kilometer langen Haupttransportleitung im zweiten Bezirk wird die Fernwärme schneller als bisher in den Norden gelangen. Seit August 2009 arbeiten sich die Baufirmen durch das Erdreich der Stadt. Vom Mexikoplatz am Donauufer bis in den grünen Prater am Donaukanal wird sie reichen. Mittendrin beim Lusthaus dockt die neue Hauptleitung an die bestehende Steinspornleitung an, die vom Kraftwerkspark Simmering kommt. Für die Arbeitsgemeinschaft, die aus den Tiefbauspezialfirmen Porr Tunnelbau, Züblin, Porr Technobau und Umwelt sowie Strabag besteht, ist das trotzdem kein alltägliches Bauprojekt.

Die Fertigkeiten von Mineuren und Spezialtiefbauern waren von Beginn an gefragt. Insgesamt werden 83.000 Kubikmeter Material ausgehoben. Die beiden Endstücke entstehen – wie hier in der Engerthstraße – mit Pressungen in geschlossener Bauweise. Beim drei Kilometer langen Mittelstück ist dies nicht nötig. „Wir können es dank einer glücklichen Wendung in geringer Tiefe als Rechteckskollektor realisieren“, freut sich Schekolin.

26 Bauvarianten

Mit einer Flut von möglichen Bauvarianten ging alles los. Am Handelskai, auf der Donauinsel und quer über die Donau. Nicht weniger als 26 verschiedene Streckenführungen für die Leitungsrohre schafften es in die Projektstudie von Wien Energie Fernwärme. „Es ging sich mit dem Alphabet gerade aus“, erinnert sich Wien Energie-Mann Schekolin.

In die engere Auswahl schaffte es die Variante Donauinsel. Vom beliebten Naherholungsgebiet der Wiener ließen die Planer aber bald ab. Die ausgedehnten Naturschutzgebiete und Feuchtraumbiotope sprachen gegen den Standort. Also wurde ein anderes Kapitel aufgeblättert. Der Handelskai bot sich an.

Doch ein glücklicher Umstand rückte den Bau mitten in den zweiten Wiener Gemeindebezirk. „2008 wurde die Straßenbahnlinie 21 aufgelassen, dadurch ergab sich die Möglichkeit, ein Teilstück der Leitung in offener Bauweise zu bauen“, so Schekolin. Vom Schwedenplatz kommend, arbeitete sich die Bim, wie Wiener die Straßenbahn liebevoll nennen, tief in den zweiten Bezirk vor. Bis zur Fußballeuropameisterschaft war sie in Betrieb. Dann entdeckten die Planer den Charme der Trasse für das Tiefbauvorhaben. „Bis auf ein paar Querungen und einen Kanal war sie frei“, erinnert sich Schekolin.

Geschlossen – offen - geschlossen

Im August 2009 starteten die Arbeiter im Osten. Bei der Endstation des 21ers gruben sie den 28 Meter tiefen Startschacht für die Pressung Richtung Lusthaus. In direkter Nähe befindet sich hier ein Kleingartenverein. Ziel war es, den Lärmpegel niedrig zu halten. „Es herrschte ja Durchlaufbetrieb“, erzählt Porr-Bauleiter Harald Glösl. Die Arbeiter stellten deshalb eine provisorische Lärmschutzwand auf. Bei der Wahl der Baugrubensicherung gab es keine Diskussionen. Nur eine Schlitzwand kam in Frage. Ein Liebherr-Bagger fuhr auf. Mittels Seilgreifer hob er die Schlitzwand aus. Über Füllrohre wurde frischer Beton zur Auskleidung eingeführt. „Die Stützflüssigkeit wurde so verdrängt und gelangte wieder in den Silo“, erklärt Porr-Mann Glösl.

Parallel dazu starteten im August die Arbeiten an der fast drei Kilometer langen offenen Ausschachtung. Von zwei Seiten – Wehlistraße und Elderschplatz – bewegten sich die Zwölf-Mann-Teams in rund fünf Meter Tiefe aufeinander zu. Und trafen sich nur zwölf Monate später in der Nähe des Stadion Centers.

Anrainerprobleme

Nach 300-Meter-Vorlauf stießen die Arbeiter 30.000 Quadratmeter Spundwände bis zu zwölf Meter in die Tiefe. Insgesamt wurden hier 56.000 Kubikmeter ausgehoben. Dann erhielten die Arbeiten in den 15-Meter-lange Abschnitten höchste Priorität. Es wurde betoniert – und 15 Meter große Schalwägen waren im Westen und Osten zur Stelle. Sie schafften fünf Takte pro Woche.

Besorgnis regte sich bei den mehreren Tausend Anrainern schon, als die Baumaschinen auffuhren. Eine drei Kilometer lange Baustelle im dicht besiedelten Gebiet – da sind Lärm und Erschütterungen beim Spunden vorprogrammiert. Entsprechend emotional wurden die Gespräche mit Schekolin geführt. Dass die Schwingungsmessungen nur ein einziges Mal den Grenzwert für denkmalgeschützte Häuser zeigten, „war für viele nicht unbedingt ein Trost“, erzählt er. Deshalb wurde auch die Arbeitszeit eingeschränkt. Glösl: „Die Arbeiter starteten erst um sieben in der Früh und endeten eine Stunde früher als erlaubt“.

Verschweißt in fünf Lagen

Ende Januar kam es bereits zur Begehung der offenen Bauweise. Die Leitungsrohre erfüllen alle Standards. Sie sind auf 180 Grad ausgelegt. Selbst Druckproben fanden bereits statt. Jedes Rohr hat eine Länge von zwölf Metern. In der offenen Bauweise zogen die Arbeiter mehr als 500 dieser Rohre mit einer Winde ein.

Die zwölfeinhalb Millimeter starken Rohre wurden dann „vier- bis fünflagig verschweißt“, erzählt Gerald Schekolin. Aus dehnungstechnischen Gründen ruhen sie auf Gleitlagern und sind mit bis zu 150 Millimeter dicker Steinwolle isoliert. Was noch fehlt sind die letzten Hinterfüllarbeiten. „Und nachdem die letzten Leitern montiert sind, wird die restliche Oberflächenherstellung in Angriff genommen“, sagt Glösl.

Maulwurf mit 81 Tonnen

Im April 2010 hatte dann die Herrenknecht-Vortriebsmaschine ihren großen Auftritt. Bei der geschlossenen Bauweise wurden insgesamt 17.000 Kubikmeter Material ausgehoben und Tag für Tag abtransportiert. Mit der 81-Tonnen-Maschine stellten die Baufirmen zunächst den östlichen Stollen Richtung Lusthaus her. Allein die Anlieferung war ein spektakuläres Ereignis. „Die Tunnelbohrmaschine wurde in der Nacht per Schwertransporter geliefert“, erinnert sich Gerald Schekolin von Wien Energie Fernwärme.

Die Stollentrasse verläuft in schluffigen Bodenformationen. In Tiefen bis zu 30 Meter können zahlreiche Sandlinsen eingeschlossen sein. Deshalb entschied sich Wien Energie Fernwärme für die Erddruckschildmaschine. Ein Schneidrad trägt das Material ab. „Als kompakter Brei wird es dann mit einer Schnecke abgefördert“, erzählt Schekolin.

9.700 Meter Rohre

Die Erddruckschildmaschine war in ihrer bisherigen Form allerdings nur auf einen Ausbruchsdurchmesser von 270 Zentimeter ausgelegt. Ein halber Meter zu wenig für die Leopoldstadt. „Deshalb ergänzten wir die Maschine außen mit einem zusätzlichen Stahlmantel und einem neuen Schneidrad“, erzählt Porr-Mann Harald Glösl. Zur Sicherung der Stollenlaibung und als Auskleidung brachte die Maschine mustergültig Pressrohre nach dem Prinzip des Rohrvortriebs ein.

„Die Spitzenleistung liegt bei 35 Meter pro Tag“, erzählt Glösl. Alle hundert Meter wurde nachjustiert. Zu diesem Zeitpunkt verlegten Rohrleger bereits die ersten Leitungsrohre. Insgesamt werden etwa 9700 Meter Rohre als Vor- und Rücklaufleitungen verlegt. Die Wände der Schächte kleideten Arbeiter mit einer Innenschalung aus. Nachdem die Vortriebsmaschine wieder Tageslicht sah, wurde sie von den Baufirmen zur 21er-Schleife manövriert. Nur dort war „ausreichend Platz für eine Überholung für den zweiten Vortriebsabschnitt“, erzählt er.

Wohnhaus evakuiert

Was so nicht geplant war: Erst mit zweimonatiger Verzögerung konnte sie ihre Arbeit im westlichen Teil – der längeren geschlossenen Bauweise bis zum Mexikoplatz – wieder aufnehmen. Beim Startschacht Engerthstraße/Ausstellungstrasse war es im Mai des Vorjahrs zu einem Zwischenfall gekommen. Der Schacht war bereits zu gut drei Viertel fertig ausgehoben. Plötzlich brachen Material und Wasser durch. Laut Gutachter wurde bei den Bodenerkundungen eine nahe Sandschicht nicht erbohrt. Sie entwickelte eine Gängigkeit. Rund 50 Kubikmeter traten aus.

Der Polier bemerkte am Pfingstsonntag den Ausfall einer Pumpe und schlug Alarm. Die Feuerwehr evakuierte ein nahes Wohnhaus mit 96 Parteien. Denn dort, wo die Bewegungsfugen des Hauses verliefen, platzte vereinzelt der Putz ab. Der Schacht wurde geflutet und aufgefüllt. Erst danach bestand keine Gefahr mehr, dass mehr Material „in den Schacht nachrutscht“, so Schekolin.

Taucher im Betoniereinsatz

Der Vorfall bescherte vier Industrietauchern vom Attersee einen zweiwöchigen Auftrag. Abwechselnd begleiteten die Taucher mit Helm den restlichen Aushub unter Wasser. „So musste der Seilbagger nicht völlig im Blindflug ausheben“, schildert Porr-Bauleiter Harald Glösl. Der Materialrest an der Plansohle wurde mit einer Hochdrucklanze ausgespült. Mit einer Pumpe wurde dann die Unterwasserbetonsohle betoniert – „die Taucher verteilten optimal den Beton“, sagt er. Bald war die Plombe ausgehärtet. Dann pumpten die Arbeiter das Wasser ab und „wir betonierten plangemäß die Bodenplatte“, sagt Glösl.

Die Sorgen der Anrainer ließ Wien Energie Fernwärme die ganze Zeit über nicht außer Acht. In einem nahen Lokal „luden wir zu einer Infoveranstaltung“, erzählt Gerald Schekolin. 250 Einladungen wurden verteilt, rund 70 Leute kamen. Das Verständnis bei den Menschen „war groß“, so Schekolin.

Granatenfund

„Die kritischen Arbeiten liegen nun hinter uns“, erzählt Porr-Bauleiter Harald Glösl. Derzeit sind noch ungefähr 20 Mann auf der Baustelle. Im Pressschacht des zweiten Vortriebstollens arbeiten sie an der Innenschale. Ende März übersiedeln sie zum Zielschacht am Mexikoplatz. Dort lag im Jänner bei Baggerarbeiten plötzlich eine Werfergranate in der Schaufel. Die Polizei riegelte eine Sackgasse ab, der Entminungsdienst war zur Stelle. „Beim Lusthaus fanden wir hingegen nur ein altes Fahrrad“, so Bauleiter Harald Glösl. So knallrot wie die beiden Baucontainer war es nicht.

Bauherr: Wien Energie Fernwärme GmbH

Generalunternehmer: Arge FWL Donau: Porr Tunnelbau GmbH/Züblin BaugesmbH/Porr Technobau und Umwelt AG/Strabag AG

Baubeginn: August 2009

Bauende: April 2012

Baukosten: 50 Millionen Euro

Trassenlänge: 5 Kilometer

Offene Bauweise: 3 Kilometer

Geschlossene Bauweise: 2 Kilometer