Vergaberecht : Abgehen von ÖNORM bei Bau-Aufträgen

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Öffentliche Auftraggeber haben bei Ausschreibungen auf einschlägige ÖNORMEN "Bedacht zu nehmen" und daher im Regelfall insbesondere die ÖNORM B 2110 heranzuziehen. Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmaß Auftraggeber von solchen Leitlinien abgehen dürfen, wird immer wieder heftig diskutiert. Neben der rein rechtlichen Frage der Erlaubtheit des Abgehens sollte immer auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Abgehens gestellt werden – gerade von Auftraggebern.

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Die ÖNORMEN im Vergaberecht

ÖNORMEN generell und Vertrags-ÖNORMEN im Besonderen spielen in der Praxis gerade im Baubereich eine große Rolle. Dabei sticht die Bauvertragsnorm B 2110 besonders hervor. Erst kürzlich wurde sie – erstmals seit vielen Jahren – aktualisiert und wird seit ihrem "Inkrafttreten" als vertragliches Fundament für einen großen Teil der öffentlichen Bauaufträge in Österreich vereinbart. Das liegt auch daran, dass öffentliche Auftraggeber im Anwendungsbereich des Bundesvergabegesetzes (BVergG) nicht mehr frei in der Festlegung der Vertragsbedingungen ihrer Ausschreibungen sind. Bestehen nämlich zu einem Ausschreibungsgegenstand "geeignete Leitlinien, wie ÖNORMEN oder standardisierte Leistungsbeschreibungen, so ist auf diese Bedacht zu nehmen" Das gilt sowohl für das Leistungsverzeichnis als auch für die Vertragsbestimmungen (§§ 105 Abs 3 bzw 110 Abs 2 BVergG).

Die Textierung der aktuellen Bestimmung weicht vom Vorgängergesetz, in dem noch von "heranziehen" der ÖNORMEN die Rede war, geringfügig ab. Dieser Abweichung wird auch Bedeutung beigemessen (siehe dazu sogleich). Unverändert ist aber der Grundgedanke: Gibt es für eine Ausschreibung eine einschlägige (Vertrags-)ÖNORM, soll sie der Ausschreibung auch zu Grunde gelegt werden. Konkret für den Baubereich heißt das, dass die ÖNORM B 2110 bei Ausschreibungen öffentlicher Auftraggeber grundsätzlich – zumindest subsidiär –zu vereinbaren ist. Was das Gesetz eindeutig nicht hergibt, sind die in diesem Zusammenhang gerne vertretenen "Extremstandpunkte". Auftraggeber meinen oftmals, dass das Gesetz – im Gegensatz zur früheren Rechtslage – nur (mehr) die "Bedachtnahme" auf ÖNORMEN vorsehe und eine einschlägige ÖNORM daher ohne Weiteres gänzlich unberücksichtigt bleiben kann. Auftragnehmer andererseits meinen häufig, jedes Abgehen von der ÖNORM sei unzulässig.

Einzelfallbetrachtung bei Abweichung

Die Wahrheit liegt in der Mitte: Öffentliche Auftraggeber dürfen durchaus von einschlägigen ÖNORMEN abgehen. Dies aber nicht pauschal und vor allem nicht unbegründet bzw undokumentiert. Schon die Gesetzesmaterialien stellen nämlich klar, dass die Gründe für allfällige Abweichungen von einschlägigen ÖNORMEN zu dokumentieren sind. Im Regelfall werden daher nur Abweichungen zulässig sein, die sich auf bestimmte Regelungen der ÖNORM beziehen und dies auch nur, wenn sie im Einzelfall begründet sind und diese Begründung auch festgehalten wurde.
Die Anforderungen an die "Begründungstiefe" sind dabei laut Judikatur zwar niedrig; dokumentiert sein muss diese Begründung aber prinzipiell dennoch. Gerade diesen Dokumentationsaufwand vermeiden viele öffentliche Auftraggeber aber und weichen unbegründet – gerne auch großflächig – von der ÖNORM ab. Solche Ausschreibungen sind rechtlich angreifbar.

Schwieriger als die Beurteilung der (Un-)Zulässigkeit nicht dokumentierter bzw nicht begründeter Abweichungen von der ÖNORM oder gar deren gänzlicher Verneinung, ist die Frage der inhaltlichen Zulässigkeit einer Abweichung. Hier ist eine Einzelfallbetrachtung geboten. Schon aus den allgemeinen Grundsätzen des Vergaberechts und auch dem konkreten Verbot des § 88 Abs 2 BVergG, Bietern unkalkulierbare Risiken aufzubürden, ist unseres Erachtens klar abzuleiten, dass jedenfalls solche Abweichungen von der ÖNORM unzulässig sind, die eine Ausschreibung unkalkulierbar machen und/oder späteren Auftragnehmern einseitig (grobe) Nachteile auferlegen. Selbst bei Abgehen von der ÖNORM kommt dieser dabei eine Funktion als Angemessenheitsmaßstab zu. Sehr verkürzt gesagt: Umso weiter sich eine Bestimmung inhaltlich von der ÖNORM entfernt, desto eher wird sie als einseitig benachteiligend und unzulässig anzusehen sein.

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Die "Sinnfrage" beim Abgehen von der ÖNORM

Ob und in welchem Ausmaß Auftraggeber bei Ausschreibungen von der ÖNORM abgehen dürfen, ist also – bei aller Unschärfe der gesetzlichen Regelung – letztlich gesetzlich vorgegeben. Dieser rechtliche Rahmen überdeckt aber häufig die mindestens ebenso wichtige Frage, wann ein Abgehen von der ÖNORM überhaupt sinnvoll ist.
Viele Ausschreibungen vermitteln den Eindruck, dass eher aus Prinzip, Gewohnheit oder einem gewissen juristischen Selbstverwirklichungsbedürfnis von der ÖNORM abgegangen wurde, als aus substantiellen inhaltlichen Gründen. Dabei macht auch für Auftraggeber die Anwendung der ÖNORM gerade bei Standardleistungen durchaus Sinn. Sie bietet hohe Rechtssicherheit und insbesondere geringe Auslegungsrisiken, ist prinzipiell ausgewogen gestaltet und nicht zu vergessen rechtlich "vollständig", deckt also die wesentlichen Vertragspunkte für Standardausschreibungen ab. Wenn daher nicht ein besonderer Ausschreibungsgegenstand im Einzelfall Abweichungen von der ÖNORM erforderlich macht, spricht auch aus Auftraggebersicht viel dafür, ÖNORMEN (insbesondere die ÖNORM B 2110) einfach anzuwenden.

Aus Bietersicht gilt umgekehrt aber auch, dass nicht jede Abweichung von ÖNORMEN ein Problem darstellt. Erstens können Abweichungen im Einzelfall durchaus in beiderseitigem Interesse liegen und zweitens (öfter) zumindest keine Nachteile für den Auftragnehmer bringen. Das ist gerade bei "Abweichungen" der Fall, mit denen Auftraggeber bloß Klarstellungen vornehmen möchten. Auch aus Bietersicht ist daher eine Einzelfallabwägung anzuraten. Gegen Abweichungen von ÖNORMEN anzugehen lohnt nur, wenn diese zu einer sittenwidrigen Risikoüberwälzung führen, unterschiedliche Auslegungen ermöglichen oder den Bietern zumindest unkalkulierbare Risiken aufbürden und damit ein echtes Hindernis für eine aussichtsreiche Angebotserstellung darstellen. Auch Bietern kann daher nicht geraten werden, eine Vertragsbestimmung schon deshalb mit einem Nachprüfungsantrag zu bekämpfen, nur weil sie von der vertrauten ÖNORM-Bestimmung abgeht bzw diese zu Gunsten des Auftraggebers abändert.

Wo die Abweichungen tatsächlich (im zuvor genannten Ausmaß) nachteilig sind, gibt es für Bieter mehrstufige Möglichkeiten. Neben den stets offenstehenden Bieterfragen, in denen Kritikpunkte adressiert werden können, ist das etwa die schon erwähnte Bekämpfung von Festlegungen im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens. Dies sollte aus ökonomischer Sicht nur bei wirklich sehr nachteiligen Festlegungen ins Auge gefasst werden und muss erfolgen, bevor Festlegungen bestandfest, also unanfechtbar werden (in der Regel also spätestens eine Woche vor Ende der Angebotsfrist bzw, wenn im 2-stufigen Verfahren bereits den Teilnahmeunterlagen die Vertragsbestimmungen angeschlossen werden, bis spätestens eine Woche vor Ende der Teilnahmefrist). In – im Baubereich nach wie vor eher seltenen – Verhandlungsverfahren können die Festlegungen zudem in den Verhandlungsrunden thematisiert werden; dies aber ohne Garantie, dass die Anregungen von Auftraggeberseite auch aufgegriffen werden.

Praxistipps:

Öffentlichen Auftraggebern ist jedenfalls zu empfehlen, von ÖNORMEN und insbesondere von der gut erprobten ÖNORM B 2110 nur dann abzuweichen, wenn dies im Einzelfall wirklich sinnvoll ist. Abweichungen sollten zudem auf "punktuelle Abweichungen" (im Sinne von Abweichungen von konkreten Regelungen) beschränkt bleiben und die Gründe für das Abgehen von der ÖNORM sollten gründlich dokumentiert werden.

Bieter in Vergabeverfahren sollten allfällige Abweichungen von der ÖNORM gründlich analysieren. In vielen Fällen werden sich diese als relativ unproblematisch und allenfalls auch "sinnlos, aber unschädlich" herausstellen. Wo dies nicht der Fall ist und die Auftragnehmerseite tatsächlich unsachlich benachteiligt wird, sollte zunächst über Bieterfragen versucht werden, den Auftraggeber für die Thematik zu sensibilisieren. Fruchtet das nicht, steht ein Nachprüfungsantrag offen. Insbesondere pauschale, großflächige und unbegründete Abweichungen von der ÖNORM werden von der Judikatur nicht gerne gesehen; vielfach wird dem Auftraggeber zudem schon die häufig mangelhafte Dokumentation zum Verhängnis werden.