Ob und in welchem Ausmaß Auftraggeber bei Ausschreibungen von der ÖNORM abgehen dürfen, ist also – bei aller Unschärfe der gesetzlichen Regelung – letztlich gesetzlich vorgegeben. Dieser rechtliche Rahmen überdeckt aber häufig die mindestens ebenso wichtige Frage, wann ein Abgehen von der ÖNORM überhaupt sinnvoll ist.
Viele Ausschreibungen vermitteln den Eindruck, dass eher aus Prinzip, Gewohnheit oder einem gewissen juristischen Selbstverwirklichungsbedürfnis von der ÖNORM abgegangen wurde, als aus substantiellen inhaltlichen Gründen. Dabei macht auch für Auftraggeber die Anwendung der ÖNORM gerade bei Standardleistungen durchaus Sinn. Sie bietet hohe Rechtssicherheit und insbesondere geringe Auslegungsrisiken, ist prinzipiell ausgewogen gestaltet und nicht zu vergessen rechtlich "vollständig", deckt also die wesentlichen Vertragspunkte für Standardausschreibungen ab. Wenn daher nicht ein besonderer Ausschreibungsgegenstand im Einzelfall Abweichungen von der ÖNORM erforderlich macht, spricht auch aus Auftraggebersicht viel dafür, ÖNORMEN (insbesondere die ÖNORM B 2110) einfach anzuwenden.
Aus Bietersicht gilt umgekehrt aber auch, dass nicht jede Abweichung von ÖNORMEN ein Problem darstellt. Erstens können Abweichungen im Einzelfall durchaus in beiderseitigem Interesse liegen und zweitens (öfter) zumindest keine Nachteile für den Auftragnehmer bringen. Das ist gerade bei "Abweichungen" der Fall, mit denen Auftraggeber bloß Klarstellungen vornehmen möchten. Auch aus Bietersicht ist daher eine Einzelfallabwägung anzuraten. Gegen Abweichungen von ÖNORMEN anzugehen lohnt nur, wenn diese zu einer sittenwidrigen Risikoüberwälzung führen, unterschiedliche Auslegungen ermöglichen oder den Bietern zumindest unkalkulierbare Risiken aufbürden und damit ein echtes Hindernis für eine aussichtsreiche Angebotserstellung darstellen. Auch Bietern kann daher nicht geraten werden, eine Vertragsbestimmung schon deshalb mit einem Nachprüfungsantrag zu bekämpfen, nur weil sie von der vertrauten ÖNORM-Bestimmung abgeht bzw diese zu Gunsten des Auftraggebers abändert.
Wo die Abweichungen tatsächlich (im zuvor genannten Ausmaß) nachteilig sind, gibt es für Bieter mehrstufige Möglichkeiten. Neben den stets offenstehenden Bieterfragen, in denen Kritikpunkte adressiert werden können, ist das etwa die schon erwähnte Bekämpfung von Festlegungen im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens. Dies sollte aus ökonomischer Sicht nur bei wirklich sehr nachteiligen Festlegungen ins Auge gefasst werden und muss erfolgen, bevor Festlegungen bestandfest, also unanfechtbar werden (in der Regel also spätestens eine Woche vor Ende der Angebotsfrist bzw, wenn im 2-stufigen Verfahren bereits den Teilnahmeunterlagen die Vertragsbestimmungen angeschlossen werden, bis spätestens eine Woche vor Ende der Teilnahmefrist). In – im Baubereich nach wie vor eher seltenen – Verhandlungsverfahren können die Festlegungen zudem in den Verhandlungsrunden thematisiert werden; dies aber ohne Garantie, dass die Anregungen von Auftraggeberseite auch aufgegriffen werden.