SOLID 06/2020 / Baurecht : Das Virus und die neuen Bauwerkverträge

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So wie auch bei "Altverträgen" (abgeschlossen bevor COVID-19 in Österreich ausgebrochen ist), müssen AN und AG zunächst entscheiden, ob sie ihrem Bauwerkvertrag die Regelungen der ÖNORM B 2110 / B 2118 zugrunde legen wollen.

Grundsätzlich gilt beim ÖNORM Vertrag, dass das Risiko für unvorhergesehene, unabwendbare Ereignisse vom Auftraggeber (AG) zu tragen ist, während dies beim reinen ABGB Vertrag im Allgemeinen umgekehrt ist, also der Auftragnehmer (AN) das Risiko für Ereignisse höherer Gewalt trägt. Diesen Unterschied sollten sich die künftigen Vertragspartner immer bewusst machen!

Was die nun bisher erlassenen COVID-19 Gesetze, Maßnahmen und Handlungsempfehlungen betrifft, treffen deren Folgen bei neu abgeschlossenen Verträgen grundsätzlich den AN. Die Maßnahmen sind bekannt und daher sind deren Folgen (Kosten, Zeit) auch nach der ÖNORM-Risikoverteilung vom AN zu tragen. Dementsprechend sind die damit verbundenen Mehraufwendungen vom AN bei der Kalkulation des Entgelts und der Bauzeit zu berücksichtigen.

Bei kurzfristigen Projekten, die innerhalb von wenigen Wochen abgeschlossen werden, ist das möglich – der AN geht davon aus, dass das gesamte Bauvorhaben unter Einhaltung der bestehenden Maßnahmen ausgeführt werden wird. Eine Herausforderung stellen aber längerfristige Bauvorhaben dar – sei es, weil die Bauzeit sehr lange ist oder weil der Bauauftrag zwar jetzt angeboten wird, aber der Beginn der Ausführung erst in fernerer Zukunft liegt.

Welche Maßnahmen sind vorhersehbar?

Mit 01.05.2020 ist die COVID-19-Lockerungsverordnung (COVID-19-LV) in Kraft getreten, welche die bisherigen Verordnungen ersetzt hat. Diese sieht nach wie vor strenge Maßnahmen zur Einhaltung des 1 m Abstandes sowie zur Tragung eines Mund-Nasen-Schutzes in gewissen Bereichen vor. Ebenso enthält der Ende März veröffentliche Maßnahmenkatalog der Bau-Sozialpartner entsprechende Regelungen.

Die COVID-19-LV ist bis zum 31.8.2020 in Kraft. Der Maßnahmenkatalog der Bau-Sozialpartner enthält zwar kein Enddatum, jedoch ist u.E. aufgrund des engen Zusammenhangs mit den COVID-Verordnungen aus bauvertraglicher Sicht davon auszugehen, dass auf ihn die gleiche Zeitschiene zutrifft.

Da weder AN noch AG in die Zukunft blicken können, gelten die COVID-Maßnahmen u.E. so lange als vorhersehbar, wie sie im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses durch den Verordnungsgeber festgelegt sind. Zum jetzigen Zeitpunkt ist jedenfalls alles, was derzeit in Kraft steht, bis zum 31.8.2020 bekannt und somit vorhersehbar und keine höhere Gewalt (Stand 27.05.2020).

Die Zukunft als Unsicherheitsfaktor

Alles darüber hinaus, auch wenn die Maßnahmen sich nicht ändern und nur zeitlich verlängert werden, ist unseres Erachtens derzeit unvorhersehbar im Sinne der ÖNORM B 2110 / B 2118 und als ein Ereignis höherer Gewalt einzustufen. Weder AN noch AG wissen, ob und was noch an Maßnahmen auf sie zukommen könnte. Infolgedessen ist es nahezu unmöglich, hierfür etwas bei der Angebotskalkulation zu berücksichtigen.

Allerdings gibt es auch Argumente, die gegen diese Ansicht sprechen: COVID-19 an sich ist bekannt und somit keine neue Pandemie, die nun – wie es vor einigen Monaten der Fall war – völlig unvorhergesehen über die ganze Welt hereinbricht. Insofern besteht bei "bloß" neuen Maßnahmen gegen dieselbe Krankheit durchaus ein deutlicher Unterschied, was die Unvorhersehbarkeit angeht.

Sollte es tatsächlich noch zu weiteren Maßnahmen kommen (gleichgültig, ob aufgrund einer neuen Welle oder nicht), ist sowohl für AN als auch für AG der Unsicherheitsfaktor bedeutend, wie und unter welchen Umständen die Arbeiten fortgeführt werden dürfen oder müssen. Dies hat sich vor allem auch zu Beginn der COVID-19 Krise gezeigt, denn es wurden die Bauarbeiten aufgrund der neuen, für alle Beteiligten ungewohnten Situation vielfach reflexartig – entweder auf Anordnung des AG oder eigenmächtig vom AN – eingestellt. Nachdem dieses Vorgehen in vielen Fällen weder vom Gesetzgeber gefordert noch vom Vertrag gedeckt war, sind hier vielfach (ungewollt) Vertragsverletzungen begangen worden. Diesem Unsicherheitsfaktor sinnvoll zu begegnen, stellt eine besondere Herausforderung bei der Ausarbeitung neuer Bauwerkverträge dar.

Eingangs wurde die Risikoverteilung gemäß ÖNORM B 2110 / B 2118 und ABGB kurz dargestellt: Bis dato war höhere Gewalt allgemein ein eher theoretisches, bei uns (abgesehen von besonderen Witterungsverhältnissen) real kaum denkbares Ereignis. Aufgrund der Ereignisse der vergangenen Monate ist diese Risikoverteilung den Vertragsparteien nunmehr deutlich bewusster als es vor CORONA-Zeiten der Fall war. Abhängig von der jeweiligen Verhandlungsmacht werden die Vertragsparteien daher noch mehr als früher versuchen, das Risiko aufgrund von COVID-19 und anderen (unvorhersehbaren) Ereignissen dem anderen Vertragspartner aufzubürden.

COVID-19 im Vertrag regeln

Die Herausforderungen aufgrund von COVID-19 haben zur Folge, dass Unstimmigkeiten zwischen AN und AG, insbesondere was die Risikoverteilung angeht, vorprogrammiert sind. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass nicht bekannt ist, wie lange die aktuellen COVID-19 Maßnahmen tatsächlich in Geltung stehen werden und dass ebenso unbekannt ist, ob und gegebenenfalls auch wann es neue Maßnahmen (unter Umständen infolge einer weiteren COVID-19 Welle) geben wird. Es empfiehlt sich daher, im Vertrag – gleichgültig, ob ÖNORM-Vertrag oder reiner ABGB-Vertrag – entsprechende Regelungen im Hinblick auf COVID-19 aufzunehmen.

Eine derartige COVID-19-Klausel sollte folgende Punkte thematisieren und umfassen:

Welche Maßnahmen stehen zum Zeitpunkt der bindenden Angebotsabgabe oder des Vertragsabschlusses in Kraft?

Welche Maßnahmen sehen AN und AG gemeinsam als vorhersehbar und somit nicht als höhere Gewalt an? Bis wann werden diese andauern?

Klarstellung, dass neue oder länger andauernde gesetzliche/behördliche Maßnahmen nicht vorhersehbar sind und höhere Gewalt darstellen.

Vereinbarung einer "Pause-Taste" für jede Vertragspartei, um neue Maßnahmen zu evaluieren und (gemeinsam) über das weitere Vorgehen entscheiden zu können, ohne dass dadurch Mehrkosten gefordert werden können oder ein Verzug auf Seiten des AN eintritt.

Vereinbarung zur Risikoverteilung:

bei Verträgen auf Basis ÖNORM B 2110 / B 2118 ist keine abweichende Risikoverteilung erforderlich,

bei ABGB-Verträgen ist eine klare Zuordnung des Risikos zum AG erforderlich, um einerseits eine Zerklüftung, wie sie im ABGB vorgesehen ist, zu vermeiden und andererseits in Einklang mit dem ÖNORMEN-System zu stehen.

Aufteilung der Mehrkosten: Regelung einer prozentuellen Kostenaufteilung von COVID-bedingten Mehrkosten zwischen dem AN und dem AG.

Keine Aufteilung der Zeitverzögerungen: Vertragsbestimmung, dass ein Anspruch des AN auf Verlängerung der Leistungsfrist im Ausmaß der COVID-bedingten unvermeidlichen Verzögerungen besteht ("Zeit" kann nicht partnerschaftlich aufgeteilt werden und daher sollte auch das Risiko ausgeschaltet werden, dass der AN in Verzug gerät).

Vereinbarung über die gemeinsame (ergänzende) Dokumentation von COVID-19 bedingten Mehrkosten und Zeitverzögerungen.

Das Wichtigste in Kürze

Vorhersehbare gesetzliche/behördliche Maßnahmen und deren Folgen (Kosten, Zeit) sind vom AN bei der Angebotskalkulation zu berücksichtigen.

Es ist nicht bekannt, wie lange die aktuellen COVID-19 Maßnahmen tatsächlich in Geltung stehen werden, sowie ob und gegebenenfalls auch wann es neue Maßnahmen geben wird. Es empfiehlt sich daher bei neuen Bauwerkverträgen hierfür entsprechende vertragliche Regelungen vorzusehen ("COVID-19-Klausel").

Bei der Ausgestaltung von COVID-19-Klauseln sollten die Parteien stets bedenken, dass die ÖNORM B 2110 (B 2118) in Kombination mit dem ABGB ein komplexes und durchaus ausgewogenes System darstellt und dass das Verändern von darin festgelegten Prinzipien immer auch die Gefahr mit sich bringt, dass die Regelungen untereinander nicht mehr zusammen passen. Widersprüche und daraus folgend Unklarheiten und Streitigkeiten können die Folge sein.

Die Autoren:

RA Mag. Wolfgang Müller leitet die Praxisgruppe Immobilien- und Baurecht von WOLF THEISS sowie das Baurechtsteam der Kanzlei.

RA Dr. Michael Müller, Bakk. ist Rechtsanwalt im Baurechtsteam bei WOLF THEISS und Generalsekretär der ÖGEBAU.

RA Dr. Natascha Stanke ist Rechtsanwältin im Baurechtsteam bei WOLF THEISS.