Reportage : Die letzten Brocken fallen

Wien im März 1945. Der „Kuckuck“ unterbricht das Radioprogramm. Kurz danach heulen die Sirenen. Drei aufeinander folgende Dauertöne sind zu hören. Dann schwingt das Signal auf und ab. Die Wiener flüchten so schnell wie möglich in den Untergrund. Schon seit Jahresbeginn wird die Stadt immer wieder von den Alliierten aus der Luft aus bombardiert. Allein im März wurden 17 Luftangriffe gezählt. Wer es rechtzeitig schaffte, suchte einen der Luftschutzkeller auf. Insgesamt verbrachte die Bevölkerung dort mehr als 54 Stunden.

Die gesamte Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg als „Reichsluftschutzkeller“ bezeichnet. Denn die massiven Bunkeranlagen aus den 40er-Jahren bauten bereits auf den Erfahrungen in Deutschland auf. Sie galten zu dieser Zeit als besonders sicher. Dazu zählten auch zwei Luftschutzkeller auf dem Areal des Wiener Südbahnhofs. Schließlich standen auch die Gleisanlagen im Mittelpunkt der Angriffe. Heute - 65 Jahre später - fallen die letzten Brocken.

Wien erhält einen neuen Hauptbahnhof. Südbahnhof und Ostbahnhof – bisher im rechten Winkel zueinander – werden zu einem Bahnhof verbunden. Im Dezember 2009 wurde der große Bahnhof gesperrt. Seit Anfang dieses Jahres wird abgetragen. Die Österreichischen Bundesbahnen lassen sich dieses Großprojekt 970 Millionen kosten. Der Abbruch kostet davon den Bruchteil von 12,5 Millionen Euro. Im Abreißen und zerstören stecken die Bauarbeiter gerade mitten drin.

Hämmer leisten Schwerarbeit

Zwei massive Bunkeranlagen halten das Abbruch-Team auf Trab. In einem mit Diamant-Seilsägen geöffneten Teil sitzt ein schweres Gerät. Der Hammer klopft im Sekundentakt. „Man sieht es deutlich. Der Hammer wirbelt sehr viel Staub auf. Im Regelfall bricht jetzt der Beton. Das Material ist aber derart massiv“, zeigt sich Porr-Manager Martin Taborsky beeindruckt. Jedem Bauleiter sitzt für gewöhnlich der Zeitplan im Nacken. Taborsky bleibt dennoch gelassen. Seine Mannschaft konnte sich auf die beiden Bunkeranlagen gut vorbereiten. Die ÖBB hatten Pläne der Bunkeranlagen im Archiv. Die ersten Probebohrungen fanden dann im laufenden Bahnhofsbetrieb statt. Was viele Fahrgäste Jahrzehnte lang nicht wussten: Der kleinere der beiden Luftschutzräume liegt direkt unter der alten Aufnahmehalle. Er umfasst 840 Quadratmeter. Wenige Meter dahinter, auf dem zur Arsenalstraße zugewandten Gelände, sitzt das große Pendant mit 1.760 Quadratmeter.

Die bis zu drei Meter dicken Wände boten rund 3.000 Wienern Schutz. Die Decken und Böden sind etwa 1,70 Meter dick. Was der Krieg nicht zum Einsturz brachte, räumen jetzt acht Bagger in mühevoller Kleinarbeit zur Seite. Acht Wochen lang wird hier gehämmert. Immer wieder reißen die Abbruchgeräte ihre Arme in die Luft, setzen ihre Hämmer an und schlagen in das Material. Zentimeter für Zentimeter, Schicht für Schicht. Der Beton entspricht einem B700. Das haben die Tests im Labor gezeigt. Laut Taborsky weist er eine besonders starke Bewehrung auf. Denn der im Beton verlegte Stahl zur Aufnahme der Zug- und Druckkräfte liegt hier nicht aneinander sondern gekreuzt. Dadurch wird der Abbruch für die Bagger besonders schwierig. Ihre Hämmer schlagen sich gerade einmal 40 Zentimeter in die Masse. Konnten die Brocken einmal frei gemeißelt werden, schieben die Schaufeln sie zur Seite. In Summe fallen über 10.000 Kubikmeter Festbunkerbeton an.

Chemiker analysieren Boden

Beim Baulos Eins befindet sich eine ausgeklügelte Aufbereitungs-Logistik. 90 Prozent des Abbruchmaterials - das sind in etwa 225.000 Kubikmeter Bauschutt – wird später wiederverwertet. Vieles davon gleich vor Ort. Allein 80.000 Kubikmeter Betonabbruch fallen an. Über interne Baustraßen rollen täglich über 450 Lastwagen-Fuhren. Die Fahrzeuge müssen zwei Wiege-Einrichtungen passieren, um die Zwischenlager zu erreichen. Metlab und ESW, zwei auf Bodenanalysen spezialisierte Labors, entnehmen Proben, um den Abfall zu bestimmen.

Bisher mussten aber nur Reste einer alten Koksfabrik, etwas Diesel und Schmieröl aus dem Verkehr gezogen werden. Der Beton wandert weiter, durch „Crasher“ und Siebe. Verschiedene Korngrößen können dabei gewonnen werden. Das wieder gewonnene Material wird für die Dammaufschüttung benötigt. Süd- und Ostbahn sollen sich ja später auf einer Höhe treffen. Der Rest, rund 65 Prozent des Abbruchs, wird via Schiene abtransportiert. Vier bis fünf Züge mit jeweils 1.200 Tonnen Bauschutt verlassen täglich das Bahnhofs-Areal. Zu den Eisenschrott-, Glas- und Holz-Entsorgern führt oft nur der Weg über die Straße.

Der Verschleiß ist enorm

Der massive Luftschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg fordert seinen Tribut. „Einen Bunker abzutragen ist nicht alltäglich. Das treibt die Abbruchgeräte schon an die Grenzen“, betont Taborsky. Ihr Einsatz wurde unter Berücksichtigung der Probebohrungen und ÖBB-Pläne abgestimmt. Die Trägergeräte - darunter ein Hitachi 470 - bringen 70 Tonnen auf die Waage. Die Anbaugeräte wie etwa die Aufsätze für die Hämmer wiegen 6,5 Tonnen. Der Verschleiß ist enorm. Alle zwei drei Wochen müssen Teile gewechselt werden. Daneben sind auch die Wartungsintervalle kürzer.

Die Hämmer werden einmal pro Woche kontrolliert. Zum Vergleich: Im Regelfall beträgt der Zeitabstand drei, vier Wochen. Eine Nebelmaschine bindet den Staub. Die Bunkerwände glitzern in der Sonne. Sie sind bereits zur Gänze frei gelegt. „Noch vor dem eigentlichen Abbruch mussten wir einen Teeranstrich herunter fräsen“, wie der Porr-Manager erklärt. Die zwei, drei Zentimeter dicke Schicht war zur Isolierung der Feuchtigkeit angebracht worden. Daneben stellt sich Taborsky die Frage, ob vielleicht im Untergrund noch unbekannte Fundamente schlummern. „Wir gehen bis zu fünf Meter hinunter. In einzelnen Bereichen sind es bis zu sieben Meter unter dem Gürtelniveau. Wichtig ist, dass wirklich alle Einbauten auf dem gesamten Baufeld abgetragen werden: „Falls einmal Kellergaragen errichten werden.“

Experten sondieren Blindgänger

Kriegsrelikte veranlassten die Bagger auch in den Wochen davor, ihre Schaufel einzuziehen. Unter anderem wurde ein mit seinen Ketten nach oben liegender „Borgward IV“ geborgen. Er stand im Dienste der Deutschen Armee, konnte direkt oder per Funksteuerung gelenkt und mit einer Sprengladung bestückt werden. Aber auch Teile einer Flak, Munitionsreste und Granaten tauchten auf. Eine Verdachtsfläche am Südbahnsteig musste auf einen Blindgänger sondiert werden. „Wir haben Luftaufnahmen von den Engländern. Dort sieht man, wo es Einschlaglöcher gibt“, erklärt Karl Johann Hartig, ÖBB-Gesamtprojektleiter für den Hauptbahnhof. Die ersten Tiefen-Sondierungen wurden bereits sechs Monate vor den umfangreichen Erdbauarbeiten vorgenommen. Kampfmittel-Experten der ÖBB versenkten Mess-Sonden, um elektromagnetische Störfelder aufzuspüren.

Und das vor allem dort, wo einmal Tiefgaragen und Pfähle stehen werden. Mittlerweile soll das Gelände von gefährlichen Kriegsrelikten frei gemacht worden sein. Hartig räumt ein: „Eine Verdachtsfläche wird erst 2012 spruchreif. Wenn wir das Bahnhofsgebäude errichten, müssen wir tiefer in das Erdreich hinein.“ Vor kurzem musste sogar der Entminungsdienst des Heeres anrücken und eine 250 kg-Fliegerbombe entschärfen. Ein Fahrer eines Walzenfahrzeuges war auf den Blindgänger auf der ÖBB-Baustelle am Matzleinsdorfer Platz gestoßen. 25 Minuten lang dauerte der Spuk. „Unsere Arbeiter sind mittlerweile sensibilisiert“, erklärt Elke Krammer. Die gelernte Architektin ist seitens der ÖBB für den Abbruch verantwortlich. „Wir haben eigentlich schon alles, was man sich irgendwie nur im Abbruchgeschäft vorstellen kann“, erklärt die 40-Jährige. Seit geraumer Zeit sind hier auch Archäologen am Werk.

Alter Südbahnhof taucht auf

Unter den alten Südbahn-Gleisen tauchten unerwartet gut erhaltene Reste des alten Südbahnhofs aus dem Jahr 1874 auf. Er überstand den Zweiten Weltkrieg mit geringen Schäden. Anders verlief das Schicksal der Ostbahn. Hier hatten die Bomber der Alliierten mehr Treffer gelandet. Mit dem Neubau des Südbahnhofs in den 50er-Jahren wurden dann einfach die Mauerreste des im Stil der Neorenaissance errichteten Gebäudes planiert. Zur damaligen Zeit war es mit dem Denkmalschutz noch etwas weit hergeholt. Was sich Archäologe Christoph Blesl vom Bundesdenkmalamt bereits erwartet hatte, traf während den laufenden Abbrucharbeiten am 18. März ein. „Da ist jetzt mehr. Das müssen wir melden“, urteilte Krammer. Seitdem begleiten acht Archäologen den Abriss. „Wir bleiben bis zum Schluss“, betont Denkmalschützer Blesl.

Seine Mitarbeiter beobachten jeden Arbeitsschritt. Zu groben Verzögerungen soll es laut der Projekt-Leiterin aber noch nicht gekommen sein. „Das Areal ist so groß, dass wir schnell eine andere Tätigkeit finden, falls die Archäologen wieder am Werk sind.“ Die Koordination erfolgt täglich. Vieles würde sich aber schon mittelfristig aus den Abbruchplänen ergeben. Archäologe Blesl schätzt die Großbaustelle. Alles an Gerät und Mannschaft sei ja schon vor Ort. „Falls wir einen Bagger benötigen, ist das auch kein Problem. Wir diskutieren das schnell aus. Dass hier die Denkmalpflege notwendig ist, ist allen verständlich und klar.“ Auch Krammer wehrt sich gegen „den Mythos, dass alles, was man findet, zu einer zeitlichen Behinderungen führt“. Vieles hänge auch vom Gesprächsklima ab.

Archäologen scannen Ziegel

Mittlerweile dürften auch die Bauarbeiter neugierig geworden zu sein, was da alles im Boden steckt. Das jetzt vielleicht auch noch der Gloggnitzer Bahnhof, also der alte Ursprungs-Bahnhof aus dem Jahr 1846, das Tageslicht erblicken könnte, glaubt Blesl nicht. Sein Augenmerk gilt einem etwa 800 Quadratmeter großem Areal, das sich teils unter den alten Südbahn-Gleisen beziehungsweise gleich im Anschluss daran erstreckt. Die opulente Kassenhalle ist manchen noch aus alten Ansichten bekannt. Überreste der glanzvollen Verkleidung sind aber nur noch in einigen Eckbereichen zu sehen. Die Grundsubstanz ist hingegen sehr gut erhalten geblieben.

Die Archäologen legen Ziegel mit den unterschiedlichsten Prägungen frei. Ein 3D-Scanner nimmt den lückenlosen Baubefund auf. Seine Genauigkeit beträgt drei Millimeter. Neben der alten Treppe, die zu den Gleisen führte, ist noch eine Beschriftung mit „Zug ang“ zu les en. Mehrere Betonpfeiler unterbrechen den alten Gewölbe-Trakt. Sie wurden direkt in das historische Mauerwerk gesetzt. „Leider sind die Überreste des alten Südbahnhofs nicht ausreichend, um ein Denkmal definieren zu können“, erklärt Blesl. „Deshalb legen wird auch nur bis zur gewollten Bautiefe frei. Einiges von den Fundamenten bleibt also im Boden.“ Eine Stelle dient als „Zitat“.

Der Rest ist eine Sache des Rechnens und Rekonstruierens. Die Daten sollen später in einer Publikation oder Ausstellung zusammengefasst werden. Fest steht: Die Überreste des alten Südbahnhofs werden ebenfalls den Abbruchzangen zum Opfer fallen. Bis Ende Mai soll die Bunkeranlage, bis Ende Juni das gesamte Bahnhofs-Areal frei gemacht werden. Offen bleibt, ob bis dahin vielleicht noch etwas im Geröll zum Vorschein kommt. „Auch das muss man in die Baustelle einbinden“, erklärt Projekt-Verantwortliche Krammer: „Mir fällt aber wirklich nichts mehr ein, was da noch kommen könnte.“

Der Grundstein für das Wiener Bahnhofsdreieck wurde 1846 gelegt. Der österreichische Eisenbahnpionier Matthias Schönerer entschied, zwei im rechten Winkel aneinander grenzende Kopfbahnhöfe zu errichten: den Gloggnitzer Bahnhof - Ausgangspunkt der Südbahn - und den Raaber Bahnhof - Ausgangspunkt der Ostbahn. Die hauseigene Lokomotiv-Werkstätte schloss das Dreieck an der dritten Seite.

Die erste Personenbahn

Die Raaber Bahn wurde in erster Linie für den Frachtverkehr eingesetzt. Einerseits in Richtung Wiener Neustadt und Gloggnitz und zum anderen über Bruck an der Leitha nach Raab. Die Gloggnitzer Bahn war als Verbindung zu Ausflugs- und Weinorten wie Gumpoldskirchen oder Bad Vöslau angelegt. Sie gilt als erste österreichische Bahn, die explizit auf den Personenverkehr ausgerichtet wurde. In der Hochblüte der Gründerzeit musste dann ein repräsentativer Kopfbahnhof her, der „Süd-Bahnhof“. Die Pläne kamen von Wilhelm von Flattich, Chefarchitekt der Südbahn.

Noch während der Weltausstellung 1873 war der „Süd-Bahnhof“ eine Baustelle, was angeblich zu etwas Chaos unter den vielen Besuchern geführt haben soll. 1874 wurde der Bau vollendet und blieb bis 1945 mehr oder weniger in seiner Form erhalten. Die Züge fuhren nach Laibach, Triest und Italien. Alte Aufnahmen zeugen von einer prunkvollen Architektur. Davon zeugte der Markuslöwe im Aufnahmegebäude, der auch in den neuen Hauptbahnhof integriert wird.

Orientexpress

Auch der Raaber Bahnhof wurde zweimal ausgebaut. 1870 zum Staatsbahnhof, ab 1918 zum Ostbahnhof. Zu den Höhepunkten zählt der Orientexpress, der auf der Ostbahn verkehrte. Im Zweiten Weltkrieg wurden die beiden Bahnhöfe durch den Krieg schwer beschädigt. In den 50er-Jahren wurde schließlich das gesamte Areal neu gestaltet. Zwischen 1955 und 1961 wuchsen Ost- und Südbahnhof nach den Plänen von Architekt Heinrich Hrdlicka zusammen. Ost- und Südbahn werden erst mit dem neuen Hauptbahnhof verbunden, der 2015 fertig gestellt sein soll.

Bauherr: ÖBB Immobilienmanagement GmbH

Firma: ARGE Porr/Strabag

Baubeginn: 4. Jänner

Bauende: Juni 2010

Abbruchkosten gesamt: 65 Millionen Euro

Abbruchkosten Südbahnhof: 12,5 Millionen Euro

Abbruchgeräte in Spitzenzeiten: 20

Arbeiter in Spitzenzeiten: 60