SOLID 11/2021 : Green Deal: „Bauen im Bestand wird zur Hauptaufgabe“

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© © florian schaller

SOLID: Bei der Taxonomie-Verordnung geht es darum, die Kapitalflüsse nachhaltiger zu gestalten. Wie genau soll dies erreicht werden und was heißt es für die Baubranche?

Michael Haugeneder: Die Taxonomie-Verordnung ist im Prinzip der technische Rahmen für die Umsetzung des EU-Green-Deals. Sie beschreibt – zum ersten Mal! –, dass nichtfinanzielle Qualitäten offengelegt werden müssen, und zwar in jeder Branche. Bis jetzt gibt es nur eine Offenlegungspflicht über finanzielle Auswirkungen: Alle, die im Kapitalmarkt unterwegs sind (Banken, Versicherungen, etc.), müssen darstellen, wie sich das Finanzielle gestaltet, welche Risiken und Sicherheiten sich daraus ergeben. Das Großartige an der Taxonomie-Verordnung ist, dass die Kapitalwirtschaft der größte Hebel unseres Wirtschaftssystems ist und daher auch der stärkste, um den EU-Green-Deal tatsächlich umzusetzen. Die Offenlegungspflicht nichtfinanzieller Qualitäten – also ökologische und nachhaltige – führt dazu, dass man sich nun intensiver damit auseinandersetzt. Immer wenn Dinge offengelegt und plötzlich messbar gemacht werden, ergeben sich neue Handlungsfelder und -ziele.

Das heißt, die Auftraggeberseite muss sich intensiver mit den nichtfinanziellen Qualitäten einer Immobilie auseinandersetzen?

Haugeneder: Nein, eigentlich ist es andersherum: Die Banken setzen sich damit auseinander. Die finanzierende Seite wird in Kürze bei den Auftraggebern über die „klassischen“ Informationen hinaus die Taxonomie-Themenfelder abfragen. Sie will schließlich wissen, was sie finanziert. Unterschreiten AGs bestimmte Benchmarks, werden die Banken einen „besseren“ Kredit zu Verfügung stellen. Und damit beginnen die Kalkulationen: Welche Maßnahmen setze ich, um ein besseres Gebäude zu errichten? Nehme ich dafür einen höheren Kredit, wenn es mir über die Laufzeit (von z. B. 20 Jahren) mehr bringt? Derzeit erfolgen diese Berechnungen nur kryptisch und immer auf das Bauvorhaben bezogen, wenn es etwa um den Einbau einer Wärmepumpe oder einer PV-Anlage geht. Mit der Taxonomie-Verordnung gehen wir einen Schritt weiter: Wir betrachten die Kapitalflüsse als Ganzes und schieben die Thematik zu den KreditgeberInnen.

Was haben die Geldgeber und -innen davon, sich mit ökologischen und nachhaltigen Qualitäten auseinanderzusetzen?

Haugeneder: Dahinter stehen zwei Sichtweisen. Zum einen müssen die Banken schauen, intern das Risiko zu minimieren, auf braunen Immobilien – stranded assets – sitzenzubleiben. Fallen Kredite aus, müssen die Banken die Immobilien nämlich am Markt veräußern und wenn diese niemand oder nur mit einem enormen Abschlag kaufen will, ist das ein Problem. Zum anderen müssen sich die Banken nach außen gut darstellen und mit grünen Investitionen Anlegerinnen und Anleger halten bzw. anlocken.

Welche Rolle spielt ihre Firma in diesem Spannungsfeld?

Haugeneder: Wir sind mittendrin! Wir bereiten die technischen Daten auf und entwickeln in frühen Phasen die notwendigen Lösungen. Die Auftraggeber werden aufgrund der neuen Verordnung zu uns kommen, weil sie wissen müssen, wie sie ihre Immobilie dorthin bringen, wo sie hinsoll. Aktuell ist eine Unterschreitung von 10 % des Primärenergiebedarfs gefordert. Der „Schmerz“, dies einzuhalten, ist für die meisten AG nicht groß; in Deutschland etwa wird dies sogar über Förderungen abgedeckt. Wir wissen aber bereits jetzt, dass es ein mehrjähriges Nachbessern dieser Benchmarks seitens der EU geben wird – wie es etwa auch beim stufenweisen Ausstieg der EU aus den künstlichen Kältemitteln der Fall war. 2025 werden wir möglicherweise bei 30 % Unterschreitung liegen und 2030 müssen wir sowieso schon nachweisen, dass wir massive Einsparungen haben, weil der Staat sonst Milliarden zahlt. So werden wir auch in der Baugesetzgebung massive Vorgaben bekommen, was die Taxonomie-Verordnung noch stärker spürbar macht.

Was bedeutet das für die Planungsseite?

Haugeneder: Das bedeutet: Wenn wir heute ein Haus planen, das 2022 oder auch 2025 eröffnet wird, wo die Richtlinien schon angezogen haben, ist bereits auf der Eröffnungsfeier jeder/jedem bewusst: Eigentlich haben wir jetzt schon eine braune Immobilie. Auch wenn diese zum Zeitpunkt der Planung noch grün war! Daher müssen wir den AuftraggeberInnen richtigerweise heute empfehlen, klimaneutral zu bauen; heute schon ein bisschen mehr zu tun, als aktuell gefordert ist. Das ist unsere große Herausforderung! Und das ist der Grund, warum wir bei ATP architekten ingenieure den ATP-Green-Deal ins Leben gerufen haben. Das oberste Ziel ist demnach, klimaneutral zu bauen. Unsere AG müssen wir dahingehend beraten, denn sonst kommen sie in ein extremes Risiko. Und auch für uns als Unternehmen ist das ein wichtiger Punkt in der Reputation. Wir sollten unsere Projekte so darstellen, dass wir sagen können: Wir sind zumindest auf einem guten Weg.

Wie ist die Lage bei den Auftraggebern – müssen Sie hier noch viel Überzeugungsarbeit leisten?

Haugeneder: Sensibilisiert werden unsere AuftraggeberInnen durch die Presse und die Politik. Plötzlich knüpft man in der Öffentlichkeit den Aufbau nach Corona an Klimaneutralität und an Klimawandel – das ist erstaunlich! Was wir aber machen müssen, ist aufklären. Was das heißt und welche Chancen und Risiken es hat: Klimaneutralität, CO2-Neutralität, Energieautarkie, Plus-Energie… Oft werden Dinge vermischt, und wir müssen auch informieren, dass es nicht so simpel ist. Ich denke, manchen AG, die ein klimaneutrales Gebäude im Sinn haben, ist es gar nicht bewusst, wohin die Reise geht. Wenn wir über Klimaneutralität reden, heißt das graue Energie (betrifft alles, was im Untergrund und in den Bauteilen steckt) plus rote Energie (betrifft die Betriebsenergie). CO2-Neutralität bezieht sich oftmals nur auf letztere. Energieautarkie bedeutet, am Grundstück die gesamte Energie zu gewinnen, die für Heizung, Kühlung und Beleuchtung des Hauses gebraucht wird, während es bei der Plus-Energie darum geht, dass das Haus mehr Energie produziert, als es verbraucht. Diese Themenfelder sind nicht gleichzusetzen!

Es braucht das Bewusstsein konsequenter Bilanzierungsgrenzen und Rechenmethoden wie im Greenhouse Gas Protocol. Dies entspricht der Erstellung einer Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) und einer Bilanz – hier haben wir bereits eindeutige Vorgaben und diese müssen auch beim Thema Klimaneutralität vereinheitlicht werden. Ansonsten sind die einzelnen Gebäude und Unternehmen nicht vergleichbar.

Welche Rolle spielt die Kreislaufwirtschaft im Ganzen?

Haugeneder: Die circular economy ist meiner Meinung nach ein sehr spannender Taxonomie-Punkt! Sie besagt, dass eine Immobilie 2030 dann ein Green Building ist, wenn 70 % im Gewicht rezyklierbar oder wiederverwertbar sind. Wenn ich mit der Masse rechne, bedeutet dies de facto, dass nur die Malerfarbe und der Teppich übrigbleiben, die ich nicht nachweisen muss (lacht). Was mir am Konzept gefällt, ist, dass es uns das erste Mal bewusst macht, dass wir in Europa eigentlich gar keine Ressourcen haben. Alles, was wir hier verbauen, beziehen wir durch Zulieferungen anderer Länder. Die circular economy hingegen bedeutet einen Wechsel in der Kreislaufwirtschaft: Es geht darum, Ressourcen nicht mehr verbrauchen, sondern ständig im Kreislauf zu halten.

Wie können Ressourcen im Kreislauf gehalten werden?

Haugeneder: Das geht in unterschiedlichen Schritten: Ich kann das Rohmaterial – also z. B. einen Stahlträger – in den Kreislauf schicken oder ich kann das ganze Bauteil – etwa ein Fassadenelement – bei einem Gebäude aus- und beim nächsten wieder einbauen. Es wird sich hier, denke ich, ein Second-Hand-Markt am Bau etablieren. ATP hat das bei der Großküche magdas in Wien ausprobiert: Wir verwendeten Türen aus einem alten Gebäude für eine Zwischenwand, eine alte Zwischendecke als Schallabsorber und wir bauten eine Stahltreppe von einem Abbruchgebäude aus und – da sie von der Lauflänge passte – wieder ein. Das hat gut funktioniert.

Inwiefern ist Wiederverwerten („Reuse“) besser als Rezyklieren („Recycle“)?

Haugeneder: Wenn wir nur versuchen zu rezyklieren – also Dinge irgendwo abbauen, sie schreddern und dann etwas Neues zusammenbauen –, ist der Energie- und Arbeitsaufwand viel zu hoch! Wir müssen daher in Richtung Klemmbausteine, wie z. B. Lego, gehen: Zerlegen und wieder zusammenbauen. Die meisten Baustoffe, die wir einbauen, halten viel länger als 20, 30 Jahre. Sie halten 50 Jahre und mehr. Dort ist meiner Meinung nach ein großer Hebel und wenn wir es schaffen, einen Markt hierfür zu etablieren, ist ein wesentlicher Schritt in Richtung circular economy geschafft. Die Schwierigkeit aber ist: Ich weiß normalerweise bei der Planung nicht, wo ich die Dinge beim Bau in drei Jahren herbekomme.

Welche Möglichkeiten braucht es, damit das Reuse in der Planung zu einer echten Alternative wird?

Haugeneder: Wir müssen einen Markt schaffen, auf dem sich KäuferInnen und VerkäuferInnen treffen. Eine Datenbank, in die Bauprodukte genauso wie Suchanfragen hineingegeben werden, wo ich etwa 40 Stahlträger mit der gewünschten Dimension für 2024 reservieren kann. Wir haben diese Informationsplattformen aber noch nicht vollumfänglich und viele haben mit gebrauchten Bauteilen zudem ein Rechtsproblem. So gibt es vielleicht kein Prüfzertifikat für einen alten I-Träger oder dieser entspricht durch Verunreinigung nicht mehr den Berechnungen. Da muss sich auch am Prüfsektor etwas tun, ich sage jetzt mal: ein „TÜV“ für einen gebrauchten Stahlträger. Man muss hier eine Sicherheit erlangen können, wie in der Automobilindustrie: Weil nur der Kilometerstand allein wenig über den Zustand eines Autos aussagt, entwickelte man eine Prüfnorm und es tat sich ein Gebrauchtwagenmarkt mit KFZ-Meisterbetrieben auf.

Verändert sich mit dem Reuse-Gedanken im Hinterkopf auch die Art, wie Gebäude von vornherein konzipieren werden?

Haugeneder: Absolut! Wir wissen, wie ein Gebäude so gebaut werden kann, dass es zerlegbar ist und in 20 Jahren wieder abgebaut werden kann. Die Lösungen hierbei lauten: modulares Bauen, meistens mit Holz; Steck- und Schraubverbindungen, keine Kleber. Bei Holz- und Hybridbau ist nicht nur der „graue Rucksack“ klein, diese Bauten sind meistens auch zerlegbar. Also damit gehen wir auf jeden Fall in die richtige Richtung! Der Hybridbau wird uns wohl noch eine Weile begleiten, weil wir uns bauphysikalisch einfach leichter tun, wenn neben Holz ein bisschen Beton im Einsatz ist. Und wesentlich ist meiner Meinung nach der Lebenszyklus: Wenn ich ein Bauteil aus- und wiedereinbauen kann und es damit nicht 50, sondern 100 Jahre nutzbar ist, wird der aktuelle, negative CO2-footprint wieder relativiert.

Was ist für Sie ein „gesundes Gebäude“?

Haugeneder: Ein wichtiger Vorteil, den die Zerlegbarkeit von Gebäuden mit sich bringt, ist, dass alles, was in einem Reuse- und Recycling-Prozess drinnen ist, schadstoffarm oder- frei ist. Wir haben dort keine giftigen Schäume, keine Schwermetalle, keine SVHCs, keine VOCs, kein Formaldehyd. Damit impliziert Zerlegbarkeit automatisch auch gesündere Gebäude. Noch dazu gibt es in der Taxonomie-Verordnung den Punkt Umweltschutz, der die Reduktion von Schadstoffen regelt.

Kürzlich fertiggestellt haben wir die Viega-Niederlassung am Attersee. Die Messungen zeigen, dass die Schadstoffwerte dort sehr, sehr gering sind. Schadstofffreie Gebäude wird es nicht geben, denn wir brauchen die Stoffe in kleinen Dosen, die aber für den Menschen unbedenklich sind. Man muss wissen: Auch Holz hat bestimmte Schadstoffe.

Außerdem sind die Projekte, die wir nach der DGNB zertifizieren, sehr „gesund“. Die DGNB und die ÖGNI haben intensiv bei der Taxonomie-Verordnung mitgearbeitet. An diesen Steckbriefen kann man sich auch orientieren, wenn man taxonomie-konform sein will.

Was wird die größte Veränderung sein, die in den nächsten Jahren auf die Planungs- und Baubranche zukommt?

Haugeneder: Ich denke, in den nächsten fünf, sechs Jahren wird sich unser gesamter Umsatz Richtung Bestand verändern und jener wird zur Hauptaufgabe für die Planung. Neubauten werden wir nur mehr sehr wenige erleben. Und das ist gut so, denn das CO2 von allem, das schon gebaut wurde, ist bereits verbraucht und die graue Emission des Bestandes damit gleich Null. Kommen nun die CO2-Steuer und andere finanzielle Rahmenbedingungen, werden immer mehr AuftraggeberInnen sich auch mit einem Bestand zufriedengeben, auch wenn er nicht zu 100 % passt. Für uns PlanerInnen liegt die Herausforderung dann in vorgelagerten Tätigkeiten, wie der Bestandserfassung und -dokumentation. Wir müssen uns nach bestehenden Rahmenbedingungen richten und schauen, das Maximum hineinzubekommen. Das ist ein anderer Ansatz, als wenn wir auf einer grünen Wiese bauen. Auch das Digitalisieren von Bestandsbauten mittels BIM ist oft schwierig und noch etwas, an dessen Weiterentwicklung wir arbeiten.