Der SOLID-Baustellenbericht : Das schräg geneigte Star-Bauwerk am Campus WU

Es ist noch gar nicht lange her, da lag zwischen Prater, Messe und der Trabrennbahn Krieau ein geräumiger leerer Platz, den die Wiener als inoffiziellen Großparkplatz sehr zu schätzen wussten. Heute steht dem Wäldchen aus dürren Stadtbäumen am Rande des Praters ein mächtiger Wald aus Stahlbetonwänden, Bauzäunen und Baukränen gegenüber.

Es ist eines jener Großprojekte, die die Erscheinung der Hauptstadt für Jahrzehnte mitprägen werden: Der Campus WU, der künftige Sitz der Wirtschaftsuni Wien, mit Gesamtkosten von fast einer halben Milliarde Euro. Ab Herbst 2013 soll die bereits im Oktober 1898 unter dem Namen „k.k. Exportakademie“ gegründete Uni hier ihren Lehrbetrieb als größte und modernste Wirtschaftsuniversität Mitteleuropas weiterführen.

Das Areal besticht nicht nur durch seine schiere Größe – so werden auf einer Grundstücksfläche von 90.000 m2 sechs Gebäude mit einer Nettonutzfläche von 100.000 m2 errichtet –, sondern auch durch die Architektur.Die Bauten für Lehre und Forschung am künftigen Campus tragen die unverkennbare Handschrift von weltweit renommierten Stararchitekten, und entsprechend erregen sie derzeit Aufmerksamkeit weit über Österreich hinaus. Die Erscheinung der Gebäude auf den Renderings ist tatsächlich spektakulär – und in ihren Formen und Anordnungen bisweilen mehr als irritierend.Der spektakulärste Bau am ArealUmso größer sind die Anforderungen an die beteiligten Planer, Konstrukteure und Baufirmen vor Ort. Das kann man bei keinem Bau so gut sehen wie bei dem „Library & Learning Center“ (LLC), also der künftigen Uni-Bibliothek. Dieses Gebäude ist das Herzstück der ganzen Anlage, es bündelt rund ein Drittel der gesamten Bauleistung des Großprojekts, und es ist wohl der spektakulärste Bau von allen.Der Baukörper wird durch zwei Canyons durchschnitten und so in vier Teile gegliedert. Die Architektur eines der beiden Canyons bildet einen stützenfreien Raum, welcher durch die Konstruktion eines 400 Tonnen schweren Stahlfachwerks ermöglicht wird. Die Wände erreichen Schrägen von bis zu 35 Grad zur Senkrechten. Ein eigenes Team aus Betontechnologen sorgt dafür, dass die besonderen Anforderungen beim Sichtbeton erfüllt werden können. Das Erdreich unter dem LLC – nur wenige hundert Meter neben der Donau - besteht zum großen Teil aus Schotter. Damit das Gebäude darauf nicht umkippt, wird es über Pfähle und eine mächtige Betonplatte im Grund verankert, deren Dimension an einen Kraftwerksbau erinnert.Allein diese Aspekte verdeutlichen, dass dies für die Ingenieure und Bauleute mehr ist als nur ein weiteres Prestigeprojekt. Das LLC ist aus bautechnologischer Sicht ein echtes Glanzstück. Die Umsetzung beim Tiefbau übernahm Bauer Spezialtiefbau, die Generalplanung Vasko + Partner Ingenieure aus Wien, die Baumeisterarbeiten Granit Bau aus Graz und den Stahlbau die Unger Steel Group. Bauherr ist die Projektgesellschaft WU Wien neu GmbH, eine gemeinsame Gesellschaft der Bundesimmobiliengesellschaft BIG und der Wirtschaftsuni Wien.

Doch am meisten geprägt hat das Konzept des LLC wohl eine Person, die selbst so gut wie nie direkt vor Ort ist: Zaha Hadid. Die 61-Jährige gehört zu den renommiertesten Architekten weltweit. Mit ihrem Büro in London und mehreren Teams in anderen Städten baut sie Bahnhöfe, Museen, Konzerthallen und Opern zwischen China, Australien, Italien und Aserbaidschan.

Es sei üblich, erzählen Beteiligte, dass Superstars wie Hadid kaum selbst am Bau seien. Stattdessen übernehmen ihre Büros die architektonische Ausarbeitung und begleiten die Umsetzung vor Ort. Im Fall des LLC hat diese Aufgabe Hadids Büro in Hamburg.Die Handschrift eines Stars, der praktisch nie da istHadid selbst verbinden gleich mehrere Projekte mit Österreich, etwa die 2003 fertiggestellte Schanze am Bergisel und die Talstation der Hungerburgbahn in Innsbruck, oder der 2006 vollendete Wohn- und Bürobau am Donaukanal in Wien-Spittelau. Außerdem unterrichtet Hadid an der Wiener Universität für angewandte Kunst. Die gebürtige Irakerin besuchte Schulen in der Schweiz und England, studierte Architektur in London und schaffte 1993 den Durchbruch, und zwar mit der Feuerwache des Vitra-Design-Werks in Weil am Rhein. 2004 bekam sie als erste Frau den Pritzker-Preis, die weltweit renommierteste Auszeichnung für Architektur. Heute zählt das Time Magazine Hadid zu den 100 einflussreichsten Menschen der Erde.

Trotzdem polarisieren ihre Werke immer wieder. Der Bau am Donaukanal erntete nach der Fertigstellung reichlich Kritik, auch mit der Nutzung lief es alles andere als reibungslos. In Basel wählten die Schweizer 2010 bei einer Volksabstimmung ein Großprojekt von Hadid kurzerhand ab. Namhafte Kritiker wie David Chipperfield oder der Salzburger Architekt Wilhelm Holzbauer bemerken, Stararchitektur wie jene von Hadid drohe„Zum Design-Wettbewerb verkommen“Tatsächlich lässt sich nachlesen, dass Hadids erstes Erfolgsprojekt, die Feuerwache in Weil, nie als solche funktioniert hat, ebenso wie eine Reihe anderer Arbeiten. Hadid gibt offen zu, mit Computern nicht gut umgehen zu können. Und ihre Zeichnungen, schreibt die FAZ, seien auch den raffiniertesten Ingenieuren nicht völlig verständlich. Hadids Entwürfe seien die Freude vieler Jurys, der Alptraum der meisten Statiker und der Schrecken sämtlicher Bauherren.Im Gespräch mit Lothar Heinrich klingt das freilich anders. Heinrich von Vasko + Partner Ingenieure ist an der Tragwerksplanung des LLC beteiligt. Vasko + Partner wiederum machen, ein Baufeld ausgenommen, Tragwerksplanung, Haustechnik, Bauphysik und Ausführungsplanung des gesamten Campus WU. „Das LLC ist eine große Herausforderung, keine Frage“, sagt Heinrich. „Manche meinten damals nur: Da ist ja alles schief. Ich persönlich hatte von Anfang an ein gutes Gefühl, an diese besondere Aufgabe heranzugehen. Wie an etwas, das man anfassen kann – aber nicht mit Handschuhen, sondern mit bloßen Händen. Und dass es machbar ist. Nicht schief, sondern mit geneigten und schrägen Flächen, die sich fließend mit Rundungen ineinander verschränken.“ Ein ganz wesentlicher Aspekt sei der wirklich gute Dialog mit dem HamburgerBüro gewesen.

Also ging es 2010 mit den Tiefbauarbeiten los. Die Wiener Niederlassung von Bauer Spezialtiefbau stellte 60 cm dicke Pfähle mit einer Länge von rund 12 m in den Boden. Dann seien die Pfähle über vorgespannte Bewehrung mit der Bodenplatte verbunden worden, erinnert sich Rudolf Elsenwenger von Ingenos.Gobiet.ZT und Geschäftsführer der Arge ÖBA des Campus WU.

Die Stahlbetonplatte hat eine Dicke von bis zu 3,5 m. „Bodenplatten dieses Ausmaßes kennt man eigentlich nur aus dem Kraftwerkebau“, meint Maximilian Pammer, Geschäftsführer der Bauherrengesellschaft.

Eine besondere Aufgabe bei solcher Betondicke war auch die Abbindetemperatur, denn es galt, Verformungen zu vermeiden. Die Arbeit am Gebäude selbst prägen zwei Materialien: Feinster Sichtbeton und Stahl. Eines der interessantesten Konstruktionselemente sei die sogenannte Canyon-Stahlkonstruktion, erklärt Heinrich.

„Das Stahlfachwerk ist 83 m lang und 12 m hoch, es hat eine Stützweite von 45 m und am sogenannten Monitor eine Auskragung von 25 m. Das sind Maße wie im Brückenbau – gewaltige Dimensionen.“Heinrich erklärt auch die Bezeichnung Canyon, die an Landschaften im Westen der USA denken lässt: „Das Licht fällt von oben, aber nicht wie in einen Innenhof, sondern tatsächlich wie in einem Canyon, der in das Gebäude eingeschnitten ist. Man kann herumgehen und heraustreten: die Einblicke sind ein architektonisches Erlebnis.“

Mit der Umsetzung der statischen Berechnungen von Vasko + Partner wurde die Unger Steel Group beauftragt. Der freitragende Canyonträger „schwebt“ nach Fertigstellung auf rund 17 m Höhe. Darauf ruht die gesamte Hauptstahldachkonstruktion. Sie besteht aus geschweißten Stahlteilen, die eine Höhe von bis zu 2,5 m aufweisen. Auf vorab betonierten Stahlrundrohrstützen werden diese Stahlträger angehängt und nach der Gesamtmontage weiter vorgespannt, so Unger.

Insgesamt werden 4.000 m2 Fläche bebaut, die Tonnage beträgt 1.341 t. Die Co-Realisation des Baus sei für das Unternehmen neben der Anlegestelle des Twin City Liners oder dem Wiener Hauptbahnhof ein wertvolles Referenzprojekt, meint Josef Unger. So wiegt allein der Stahlträger 350 t. Entsprechend war sein Einbau im März dieses Jahres ein Ereignis. Das ging schon mit dem Kran los. Zusätzlich zu den Turmdrehkranen vor Ort waren ganze 34 Schwertransporter-Ladungen und vier Tage Aufbau nötig, um aus Trier die Bestandteile eines riesigen Raupenkrans anzuliefern: des 650-Tonners Terex CC2800-1. „Dieser Kran wird üblicherweise bei der Errichtung von Windrädern eingesetzt, weil er Gewichte bis zu 100 t auf eine Höhe von etwa 100 m heben kann“, erklärt Pammer. Nachdem der Terex selbst zusammengebaut wurde, legte das gelbe Ungetüm los und hievte die acht Einzelelemente des Stahlträgers in luftige Höhen.Sichtbeton in 25-Grad-Neigungen Doch die Baumeisterarbeiten von Granit Bau sind nicht minder spektakulär. „Die Entscheidung für die Firma war eine wirklich gute Wahl“, kommentiert Pammer von der Bauherrenseite. Die Gebäudemasse ist vom Canyonträger in vier Teile zerteilt, die über Stiegen und Aufzugsgruppen zu vier Kernen zusammengefasst sind. „Jeder Kern hat andere Wandneigungen“, erklärt Benjamin Grabner, Projektleiter von Granit Bau. „Besonders hohe Anforderungen bestanden beim Sichtbeton.“

So ging es darum, Wandneigungen bis 25 Grad, abgerundete Ecken und Rundungen mit einem Radius von 1–1,5 m in Sichtbetonqualität zu errichten, und zwar mit eigenen Sonderschalungen. Ein eigenes Team sorgt laut Pammer für die Betonqualität, und zwar mit der richtigen Rezeptur, Schalölen, Zuschlagsstoffen und dem Zeitpunkt der Schalung. Besser bauen mit eigener MannschaftAuch die Arbeit unter der glatten Oberfläche hält genug Anforderungen bereit. So werden in die Wände Spannanker zur zusätzlichen Festigkeit verbaut. Und dann gibt es Bauelemente wie die Decke des Festsaals, die in einer Mächtigkeit von 1,80 m stützenfrei auszuführen ist. „Das kommt sehr selten vor“, meint Grabner. Das Team von Granit betonierte die Decke mehrlagig, insgesamt dreimal wurde sie gegossen, davon einmal mit 30 cm in Sichtbeton. Neben den zahlreichen Details zum Bau weist Pammer am Rande auch darauf hin, dass Granit fast nur mit steirischen Mitarbeitern tätig ist. „Qualität wie diese ist nur mit Eigenpersonal sicherzustellen." (zuerst erschienen in SOLID 04 / 2012)

Daten & Fakten zum LLC:Bauherr: Projektgesellschaft Wirtschaftsuniversität Wien Neu GmbH (Gesellschaft der BIG und der WU)Architekten: Zaha Hadid Architects (Hamburg), BUSarchitektur + Partner (Wien)Generalplanung: Vasko + Partner Ingenieure, WienTiefbau: Spezialtiefbau Bauer, WienBaumeisterarbeiten: Bauunternehmung Granit GmbH (Graz)Stahlbau: Unger Steel Group (Oberwart)Fassadenarbeiten: GIG (Attnang-Puchheim)Schalungstechnik: MevaDaten & Fakten zum Campus WU:Gebäudekomplexe: 6Grundstücksfläche ca. 90.000 m2 Länge ca. 560 m, Breite zwischen ca. 150 und 210 mBauten: Nettonutzfläche 100.000 m2, bebaute Fläche 35.000 m2Baukosten: Budget von 492 Mio. EuroZeittafel Campus WU:

Oktober 2007: Standortwahl für das Areal

Mai 2008: Juryentscheidung Generalplanerwettbewerb und Beauftragung

Dezember 2008: Bekanntgabe Siegerprojekte des Architekturwettbewerbs

Oktober 2009: Beginn Abbrucharbeiten

Jänner 2010: Beginn Aushubarbeiten

August 2010: Beginn Tiefgründungsarbeiten

Oktober 2010: Beginn Rohbauarbeiten am LLC

August 2012: Abschluss Rohbauarbeiten am LLC (geplant)

März 2013: Einrichtung und Probebetrieb (geplant)

Oktober 2013: Regelbetrieb (geplant)

(zuerst erschienen in SOLID 04 / 2012)